Aus dem Leben eines Gentleman-Rennfahrers

  04.12.2018 Region

Karim Ojjeh ist diesjähriger Champion der europäischen GT3-Rennserie Blancpain GT Sports Club. In seinem BMW M6 GT3 des Boutsen-Ginion-Racing-Teams holte er während der sechs Rennen in Monza, auf dem Circuit Paul Ricard, in Misano, Spa, Budapest und Barcelona die meisten Punkte. Dreimal siegte er und zweimal stand er als Zweiter auf dem Podest. Ich habe den Champion 2018 zu einem Gespräch getroffen.

ÇETIN KÖKSAL
Es ist zum ersten Mal wieder so richtig kalt, als wir uns nach diesem lauen Herbst in Karim Ojjehs Wohnort treffen. Schönried macht seinem Namen alle Ehre, scheint doch die Sonne prächtig über einem wolkenlos blauen Himmel. Als mein Gesprächspartner eintrifft, bin ich zuerst einmal von seiner schieren Grösse beeindruckt. Wie passt dieser breitschultrige, durchtrainierte Hüne bloss in ein Renncockpit? Es passiert mir eher selten, dass ich mir mit meinen fast 190 cm klein vorkomme. Nach einem herzlichen «Hi, I’m Karim» setzen wir uns und ich frage den gut Fünfzigjährigen nach den Anfängen seiner Passion.

Wie alles begann
Karim Ojjeh wächst zunächst in Genf auf und kommt dann mit zwölf Jahren ins Saanenland, wo er weiter zur Schule geht und die Vorzüge dieser schönen Region kennen- und schätzen lernt. Im Verlauf unserer Unterhaltung erkennt man diese über viele Jahre gewachsene und gereifte Verbundenheit zum Lebenszentrum seiner Adoleszenz immer wieder.

Während der College- und Studienjahre in den USA lernt er seine Ehefrau kennen und sie gründen bald einmal eine Familie. Überraschenderweise verneint er meine Frage, ob er denn als junger Mann auch schon vom Autovirus infiziert gewesen sei. «Ich hatte eine junge Familie und deshalb andere Prioritäten. Autos interessierten mich nicht besonders und schnelles Fahren auch nicht wirklich.» Als hochgradig Infizierter bin ich zugegebenermassen erstaunt, da ich es bis zum heutigen Tag nicht geschafft habe, diese infantile Freude und Begeisterung für alle möglichen Facetten des Automobils abzulegen. Karim ergänzt: «Erst als ich in meinen Dreissigern einmal eine Rennfahrerschule im kalifornischen Laguna Seca besuchte, fing ich Feuer. Nach einem Tag war ich körperlich und mental fix und fertig, aber ich wusste nun, dass ich Rennen fahren wollte.» Auf mein Nachhaken nach den genauen Gründen dafür, antwortet mein Gegenüber: «Was mich fasziniert, ist die enorme Bündelung von Energie und Konzentration, die notwendig ist, um ein Rennen überhaupt durchzustehen. Will man gewinnen, müssen zudem viele kleinere und grössere Faktoren ideal zusammenpassen.» Während Karim dies präzise ausführt und mit anschaulichen Beispielen untermalt, wird mir bewusst, worum es ihm im Grunde geht. Jeder, der sich durch Ehrgeiz, Fleiss, Talent und Wille schon einmal kontrolliert an seine Leistungsgrenze gebracht hat, kennt dieses Gefühl, wenn für einen Moment einfach alles passt. Es ist zwar ein Tanz auf Messers Schneide, bei dem die kleinste Ungereimtheit fatale Folgen haben kann, aber dieses Gefühl des Fliessens entschädigt für all die Mühsal, die nötig gewesen ist, um überhaupt dahin zu kommen. Mit 37 Jahren stieg Karim in die Formula Palmer Audi ein. Zwei Jahre später beendete er sein Engagement in dieser Monoposto-Serie als Dritter der Meisterschaft. Nun begann das Abenteuer Le Mans.

Die 24 Stunden von Le Mans
Das traditionsreiche, seit 1923 ausgetragene Langstreckenrennen findet jeweils am zweiten Juniwochenende des Jahres statt. Gestartet wird meistens um 16 Uhr und Ziel des Rennens ist es, in den folgenden 24 Stunden möglichst viele Runden der knapp 14 Kilometer langen Strecke zurückzulegen. Seit den Achtzigerjahren wechseln sich heute drei statt der damals zwei Fahrer pro Team ab. Im Idealfall ist das Rennauto also nur zum Fahrerwechsel in der Box.

Müssen während der 24 Stunden Reparaturen am Fahrzeug vorgenommen werden, ist dies nur in der Teamwerkstatt, der Box, erlaubt. Bleibt ein Rennbolide mit einer Panne auf der Rennstrecke liegen, darf sein Fahrer infolgedessen keine fremde Hilfe in Anspruch nehmen.

Karim Ojjeh startete 2005 im Team Paul Belmondo mit dem Le-Mans-Prototype Courage C65 in der LMP2-Klasse. Es wird in vier unterschiedlichen Klassen gestartet: Le-Mans-Prototypen 1 und 2 (LMP1/2) und Le Mans GTE Pro (professionelle Fahrer) bzw. Le Mans GTE Am (mindestens ein Amateurfahrer). Die GTE-Autos sind seriennahe GT-Sportwagen (Grand Turismo), während die LMP-Boliden reinrassige, für 24-Stunden-Rennen konstruierte Rennautos sind. Bereits beim ersten Rennen landete Karim mit seinem Team auf dem zweiten Platz. Wie ist es nun also, an diesem legendären Rennen teilzunehmen? «Sehr anstrengend», antwortet er ohne zu zögern. «Und zwar nicht unbedingt wegen des Rennens selbst», fährt er fort, «nein, der ganze Zirkus vor dem Rennen zehrt ungemein an deinen Energiereserven. Fast eine Woche vor dem eigentlichen Start musst du dort sein. Die Autos müssen zur technischen Abnahme, sogar deine Schutzoveralls werden geprüft, du hast Presse- und Fototermine, einen Trainingslauf, das Qualifying und natürlich die obligatorische Fahrerparade.» Karim überlegt, ob er auch wirklich nichts vergessen hat, erwähnt noch das nervenzehrende Warten zwischen den einzelnen Verpflichtungen, bevor er fortfährt: «Ist es dann endlich Samstag, stehst du am Morgen frisch, ausgeruht und voller Tatendrang auf und musst … ja genau richtig, wiederum warten. Im schlechtesten Fall gehst du ausgelaugt und energielos um 16 Uhr an den Start.» 

Energie und mentale Stärke gehörten überhaupt zu den notwendigsten Grundpfeilern, um auch in diesem Sport erfolgreich sein zu können. Die 24 Stunden von Le Mans strapazieren diese Grundpfeiler ganz besonders, denn man stelle sich vor, während dieser Zeit einige Stunden mit Hochgeschwindigkeit die 14 Kilometer abzufahren, bei Tag und bei Nacht, dann drei bis maximal vier Stunden zu schlafen, um wiederum im Cockpit möglichst schnell seine Runden zu drehen. Hat man sich bereits vor Rennbeginn verausgabt, hält man dies schlicht nicht durch. Karim erzählt weiter von den für Le Mans typischen, schnell wechselnden Wetterverhältnissen und dem überwiegend herausfordernden Strassenbelag. «Bedenke, dass 70 bis 80 Prozent der Rennstrecke normalerweise als öffentliche Strasse genutzt werden. Da fährt man nicht auf speziell griffigem Rennasphalt, nein, du schiesst mit 300 km/h über eine Strasse, wo sonst normale Alltagsautos fahren.»

Nun, der nicht mehr ganz so junge Rennfahrer übte und lernte zusammen mit seinem Team, bis es dann 2011 so weit war. Der Gewinner von Le Mans in der LMP2-Klasse hiess Karim Ojjeh. Früher als gedacht, erreichte er sein hoch gestecktes Ziel. Mit 46 Jahren hatte er alles erreicht, was er als Rennfahrer erreichen wollte. Also beendete er seine Karriere auf dem Zenit und bereitete sich auf ein Leben als Rennpensionär vor. Natürlich sollte es anders kommen.

GT3, Angst und Elektro
Nach einem Jahr Rennurlaub und vielen Diskussionen mit Akteuren in diesem Geschäft liess sich Karim dazu überzeugen, seine Erfahrungen in einer anderen Serie zu nutzen. Bis heute fährt er nun GT3-Autos, also seriennahe Gran-Turismo-Sportwagen. Aktuell ist es wie erwähnt ein BMW M6 GT3. Nach sechs Jahren in dieser Klasse ist der Schönrieder Rennfahrer nun erneut Champion geworden. Wie er mir jedoch versichert, steht eine abermalige Pensionierung momentan nicht zur Diskussion. Selbstverständlich werde auch er nicht jünger, doch so lange sein Team ihn für konkurrenzfähig halte und er weiterhin Spass an der Sache habe, sehe er keinen Grund, vorzeitig aufzuhören. Ich frage ihn, ob er sich vor dem Augenblick des Aufhörens fürchte und ob Furcht oder Angst vor oder während der Rennen ihn beschäftigten. Karim antwortet wiederum schnell und bestimmt mit einem deutlichen Nein. «Ich darf auf eine schöne Rennkarriere zurückblicken, habe mehr erreicht, als ich wollte und fahre jetzt einfach noch aus Freude an diesem Sport. Ich muss nichts mehr beweisen und freue mich über jedes gelungene Rennen. Angst habe ich keine, denn so lange ich der festen Überzeugung bin, die Situation zu kontrollieren, sollte nichts passieren. Natürlich müssen wir Fahrer auch unbedingtes Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Sicherheit unserer Fahrzeuge haben.»

Im Anschluss an diese sehr bestimmte Aussage gesteht mir Karim aber, dass er trotzdem schon schwere Rennunfälle gehabt hat und nur dank einer gehörigen Portion Glück mit keinen grösseren Verletzungen davongekommen ist. Vielleicht müssen Rennfahrer jedwede Form von Angst verdrängen, um überhaupt immer wieder ins Cockpit steigen zu können. Denn jede konzentrationseinschränkende Emotion erhöht das Risiko auf einen Kontrollverlust und somit auf einen Unfall.

Am Ende unseres Gesprächs frage ich Karim noch, was er denn von den aufkommenden Elektro-Rennserien halte. «Im Moment finde ich sie eher langweilig, ganz im Gegensatz übrigens zu den Strassen-Elektroautos. Da tut sich einiges und ich bin ein grosser Fan von dieser neuen, emissionsfreien Fahrzeuggeneration.» Fast schon leidenschaftlich fährt er fort: Es ist völlig klar, dass sich unser Mobilitätsverhalten wandeln wird. Ich benutze beispielsweise so oft wie möglich den Zug, weil ich keine Lust auf Stau habe.» Nach diesem Statement verabschieden wir uns, Karim Ojjeh schwingt sich auf sein peppig farbiges Elektrovelo und fährt nach Hause.

Als mich auf meinem Rückweg über den Col du Pillon ein aufgepeitschter junger Mann in einem viel zu potenten Auto in einem halsbrecherischen Manöver überholt, wünsche ich ihm eine Begegnung mit einem echten Rennfahrer. Dann würde er hoffentlich realisieren, dass sein Verhalten das komplette Gegenteil von dem ist, was er so gerne sein möchte. Champions halten sich an Regeln, sind äusserst diszipliniert, bewahren Ruhe und lassen sich auf gar keinen Fall durch überschäumende Hormone, Musik oder gar Rauschmittel zu gefährlichem Fahren verleiten. Lasst uns also alle Champions öffentlicher Strassen sein!

 


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