Das langsame Ende einer Ausnahmepolitikerin

  28.12.2018 Leserbeitrag

Jahrelang trug Angela Merkel den inoffiziellen Titel der «mächtigsten Frau der Welt». Mit ihren Beliebtheitswerten in der Bevölkerung konnte keiner ihrer ausländischen Amtskollegen mithalten. Auch nach knapp zehn Jahren als Bundeskanzlerin wurde sie am CDU-Parteitag Ende 2014 mit 96,7 Prozent als Parteivorsitzende bestätigt. Doch nun hat sich das Hoch Angela verzogen, Merkels Rücktritt als Parteichefin Anfang Dezember ist der klarste Ausdruck dieses Wetterwechsels.

Der Niedergang von Angela Merkel begann mit der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015, als die Kanzlerin die Grenzen für die auf dem Balkan gestrandeten Flüchtlinge öffnete. Es war nicht bloss eine humanitäre Geste, sondern auch ein zutiefst rationaler Entscheid; denn der Stau der Menschen auf der Balkanroute hätte die Stabilität der ohnehin labilen Region gefährdet. Doch die anfängliche Willkommenskultur schlug bald einmal in Kritik an der Kanzlerin um, heftig geschürt durch die erstarkende Rechtspartei AfD.

Trotz ihrer Beliebtheit sparten Polit-Beobachter schon zuvor nie mit teils ätzender Kritik. Von nacktem Machtwillen beseelt sei sie, illusionslos und frei von jeglicher Vision. Die Kanzlerin mache Politik mit dem Wind und halte sich virtuos an der Macht, hörte man immer wieder. Macht ausgeübt hat Merkel in der Tat, in personalpolitischen Fragen gar ziemlich rigoros: Sie hat alle parteiinternen Gegner buchstäblich neutralisiert. Lange Zeit wagte es keiner mehr, ihre Position in Frage zu stellen. Es ist ihr sogar gelungen, die Nachfolge für den Parteivorsitz in ihrem Sinn zu regeln: Die Anfang Dezember gewählte neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ist Merkels Vertraute; die Kanzlerin hat die bisherige saarländische Ministerpräsidentin Anfang 2018 rechtzeitig zur CDU-Generalsekretärin berufen. Das nennt man vorausschauende Personalpolitik.

Doch Merkels Verständnis von Macht ist nicht an äussere Machtsymbole gebunden, hat nichts Grossspuriges. Sie ist eine kühle Analytikerin und weiss, dass wahre Durchsetzungskraft immer auch auf taktischer Zurückhaltung beruht, auf dem klugen Einbezug des Gegenübers, auf der Suche nach dem Kompromiss. Diese Qualitäten liessen sie auch zu einer gefürchteten Verhandlerin und zu einer respektierten Krisenmanagerin werden. Vor allem aber besitzt die Kanzlerin Eigenschaften, die man bei Spitzenpolitikern immer häufiger vermisst: Sie ist eine hartnäckige Sachpolitikerin mit einem überdurchschnittlichen Durchhaltevermögen und einer riesigen Frustrationstoleranz. Was unspektakulär tönt, ist allerdings der Kern guter Regierungsführung. Denn 90 Prozent der Arbeit an der Spitze einer Exekutive besteht nicht aus Show, grossen Würfen und Zukunftsvisionen. Die meiste Zeit verbringt eine Regierungschefin mit Aktenlesen, Sitzungsleitung, Koordinieren, Moderieren, Reagieren, Verhandeln, Vermitteln, Überwachen, den Überblick behalten. So zumindest sollte es sein.

Politikerinnen wie Merkel, die in der Lage sind, die zunehmende Komplexität der Probleme intellektuell überhaupt zu erfassen und auf pragmatische Lösungen hinzuarbeiten, sind weltweit Auslaufmodelle. Merkels überlegene Nüchternheit garantierte bisher – und hoffentlich noch bis zu ihrem auf 2021 angekündigten Rücktritt – ein klein wenig Berechenbarkeit und Stabilität in einer Welt voller Unberechenbarkeit und Instabilität.

JÜRG MÜLLER
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