Das Veloschloss

  28.12.2018 Leserbeitrag

DIE VELOSOPHISCHE ECKE – PHILOSOPHIE DES VELOFAHRENS

Velos, die nicht abgeschlossen sind, sind eine grosse Versuchung: für Gelegenheitsdiebe, die nur schnell von A nach B wollen, für richtige Velodiebe und für das organisierte Verbrechen. Für gut organisierte Velodiebe wecken jedoch alle Velos eine grosse Begierde, auch abgeschlossene. Und mit genügend Zeit, einer grossen Seitenschneider-Zange oder entsprechendem Werkzeug lassen sich auch die dicksten Ketten knacken. Es ist unglaublich, wie viele Velos jährlich gestohlen werden. Aber nur wenige gestohlene Velos werden auch wieder gefunden und noch weniger Velodiebe erwischt. Allein in der Schweiz wurden im Jahr 2017 35 025 Velodiebstähle der Polizei gemeldet (effektiv sind es wohl mindestens doppelt so viele). Von je 100 gemeldeten Diebstählen konnten aber nur etwa zwei geklärt werden.

Am sichersten sind Velos darum, wenn sie mit ihren rechtmässigen Besitzern oder Besitzerinnen in Bewegung sind. Aber da Velos in der Regel länger irgendwo stillstehen, als dass sie gebraucht werden, empfiehlt «Pro Velo Schweiz» zur Vorbeugung von Diebstahl und zur Erleichterung der Rückführung drei Dinge: 1. Velos wenn immer möglich in einem abschliessbaren oder überwachten Raum einstellen; 2. Velos nicht nur abschliessen, sondern auch irgendwo an ein Geländer oder Veloständer anschliessen; 3. Sich Rahmennummer, Marke und Farbe des Velos notieren. Das uralte Sprichwort: «Vorsicht ist die Mutter der Porzellanschüssel» gilt also auch beim Veloabstellen. Am Velo ein gutes Schloss zu montieren oder sogar immer ein Kettenschloss mitzuführen, hat darum nichts mit übertriebener Ängstlichkeit zu tun, sondern mit vernünftiger Vorsicht. Denn bei der grossen Anzahl Velos, die jedes Jahr gestohlen werden, ist es sinnvoller, vernünftig zu handeln, als sich auf das Glück zu verlassen.

Zu jedem Schloss gehört auch immer ein Schlüssel oder ein Zahlencode. Beim Veloschloss mit Schlüssel handelt es sich meistens um ein Schlüsselchen. Und dieses kleine Ding ist manchmal gerade nicht da, wo es sein sollte. Und das ist lästig. Wenn man das Velo gut abgeschlossen hat und das Schlüsselchen verloren oder irgendwo vergessen hat, braucht es gute Nerven. Im ältesten mittelhochdeutschen Liebeslied liegt die positive Pointe aber gerade darin, dass der Schlüssel verloren geht und das Schloss nicht mehr geöffnet werden kann. Das Lied heisst: «Dû bist mîn, ich bin dîn. / des solt dû gewis sîn. / dû bist beslozzen / in mînem herzen, / verlorn ist das sluzzelîn: / dû muost ouch immêr darinne sîn.»

Wer das Schlüsselchen zum Öffnen des Veloschlosses nicht findet oder verloren hat, sollte sich in Zukunft immer kurz an dieses uralte Liebeslied erinnern, statt sich zu ärgern. Denn Ärger ist ungesund und blockiert. Vielleicht erinnert man sich bei den Gedanken an dieses Liebeslied sogar daran, wo das Schlüsselchen sein könnte. Oder vielleicht gelingt es auch, sich in der Erinnerung an dieses Liebeslied mit den Worten zu trösten: «verlorn ist das sluzzelîn, aber das velo ist immêr noch mîn.»

ROBERT SCHNEITER


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