Wie aus Faustina Cristina und aus Cristina wieder Faustina wurde

  18.12.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER

Ich heisse Faustina und wurde als kleines Mädchen von meiner Mutter an eine Frau namens Berta verkauft. Ich weiss nicht, warum mich meine Mutter verkauft hat und für wieviel. Es gibt bolivianische Kinder, die haben das Glück, dass sie an Menschen verkauft werden, die keine eigenen Kinder haben und sie dann wie eigene Kinder aufziehen. Doña Berta aber hatte Kinder und kaufte mich, weil sie ein Hausmädchen brauchte. Sie hatte einen erwachsenen Sohn, der Polizeioffizier war und Efraín hiess. Er heiratete und hatte Kinder. Als er nach Santa Cruz ins Tiefland versetzt wurde, bat er seine Mutter, mich als Kindermädchen mitnehmen zu dürfen. So kam ich mit seiner Familie von Potosí, wo Doña Berta wohnte, nach Santa Cruz. Efraíns Frau behandelte mich gut und ich hatte die Kinder gern, Efraín selbst jedoch begann mich schon bald sexuell zu missbrauchen. Ich wagte es nicht, seiner Frau etwas zu sagen, da ich fürchtete, dass sie mir nicht glauben würde. Ich beschloss auszureissen, aber ich wollte es nicht ohne meine Geburtsurkunde tun. Ich wusste, dass sie meine Geburtsurkunde hatten, wusste aber nicht wo. «Es gibt da ein Problem mit meinem Namen», sagte ich eines Tages, als ich nach dem Mittagessen das schmutzige Geschirr abräumte. «Was für ein Problem?», fragte Efraín. «Wie kannst du ein Problem mit deinem Namen haben, Mädchen?»

«Meine Mutter hat mir einmal gesagt, dass ich Cristina hiesse und nicht Faustina.»

«So ein Blödsinn», sagte Efraíns Frau. «Wir haben dich immer als Faustina gekannt.»

«Ich möchte es aber gern selbst sehen in meiner Geburtsurkunde.»

«Das ist doch einerlei, ob du Faustina oder Cristina heisst, ausserdem kannst du doch gar nicht lesen!», protestierte Efraín.

«Zeig es ihr doch, wenn sie es unbedingt sehen will …»

Brummend stand er auf und zog aus der Schublade einer Kommode das gewünschte Dokument: «Hier steht es doch, schau, klar und deutlich: Faustina …»

Nachdem er mir das Dokument gezeigt hatte, legte er es nicht einmal in die Schublade zurück, sondern auf die Kommode. Das war, was ich gewollt hatte. Mitten in der Nacht stand ich auf, nahm meine wenigen Sachen und die Geburtsurkunde von der Kommode im Esszimmer und schlich mich aus dem Haus. Noch in derselben Nacht stieg ich heimlich auf einen Lastwagen nach Cochabamba, das auf halbem Weg ins Hochland nach Potosí liegt. In Cochabamba wurde ich jedoch zum Jugendamt gebracht, denn ich war erst gerade acht Jahre alt. Auf die Frage, wie ich hiesse, erwiderte ich: «Cristina». Die Geburtsurkunde versteckte ich sorgfältig unter meinen Kleidern. Ich wurde in ein Heim gebracht. Nach wenigen Wochen erschienen dort Doña Berta, die Frau, die mich gekauft hatte – und meine Mutter. Ich wusste nicht, wie sie mich gefunden hatten. «Du musst mit uns kommen, Faustina», sagte meine Mutter zu mir.

«Ich kenne diese Frauen nicht», erwiderte ich jedoch der anwesenden Sozialarbeiterin. «Und ich heisse Cristina, nicht Faustina.»

«Aber natürlich bist du Faustina und bist meine Tochter, was soll das?»

Ich leugnete hartnäckig, denn ich wollte auf keinen Fall, dass ich wieder zu Efraín nach Santa Cruz gebracht würde. Zum Glück bemerkte die Sozialarbeiterin, dass irgendetwas nicht stimmte. «Also, wenn das Kind sagt, es hiesse Cristina und kenne sie nicht, müssen wir ihm glauben», meinte sie. Da begann Doña Berta, vor der Sozialarbeiterin und vor mir, mit meiner Mutter zu diskutieren: «Wenn ich das Mädchen nicht zurückbekomme, musst du mir das Geld zurückgeben.»

«Aber das habe ich doch schon längst verbraucht!»

«Das kannst du nicht mit mir machen, schliesslich habe ich bezahlt und …» «Von was sprechen Sie überhaupt? Geld zurückgeben? Bezahlt?» unterbrach sie die Sozialarbeiterin, denn natürlich ist es auch in Bolivien verboten, Kinder zu verkaufen.

Die Frauen schwiegen erschrocken. «Es muss … muss sich um eine Verwechslung handeln», murmelte Doña Berta. Beide warfen mir einen giftigen Blick zu und zogen ab. Sie kamen nie wieder zurück. Ich blieb Cristina. Die Sozialarbeiterin verstand mich, ohne dass ich ihr erzählen musste, was passiert war. Sie verschaffte mir Dokumente mit meinem neuen Namen. Sechs Jahre später kam ich zu «Tres Soles». Bald fasste ich Vertrauen zu Guisela, die sich in «Tres Soles» um die Papiere der Kinder und Jugendlichen kümmerte. Sie war der erste Mensch, dem ich meine Geschichte erzählte. «Hier ist meine ursprüngliche Geburtsurkunde, in der ich mit Faustina registriert bin», sagte ich und zeigte ihr das Dokument, das ich all die Jahre so sorgfältig versteckt hatte. «Jetzt möchte ich eigentlich wieder Faustina heissen, der Name gefällt mir besser. Ich glaube nicht, dass sie mich noch suchen, nicht wahr?»

«Bestimmt nicht, nach so vielen Jahren», gab mir Guisela lächelnd recht. Wir dachten sogar darüber nach, Efraín anzuzeigen. Er war inzwischen zum Obersten aufgestiegen. Wir wussten, dass es ganz, ganz schwierig sein würde, einen Prozess anzufangen. Als mir Stefan vorschlug, meine Geschichte für einen Artikel zu verwenden, wünschte ich ausdrücklich, dass sein ganzer Name genannt wird: Efraín Arteaga, Oberst der bolivianischen Polizei. Wenn wir ihn schon nicht anzeigen konnten und wollten, soll er doch wissen, dass ich nicht vergessen habe, was er mit angetan hat. Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich die Jahre in «Tres Soles» gut genutzt habe. Ich habe die Grundschule abgeschlossen, habe mit Guisela in der Nähwerkstatt gearbeitet und eine Lehre als Kindergärtnerin gemacht. Leider ist es in Bolivien schwierig, Arbeit zu finden. Deshalb arbeitete ich in Argentinien in einer Kleiderfabrik, wo mir das Wissen, das ich mir in der Nähwerkstatt von «Tres Soles» angeeignet hatte, sehr nützlich war. Heute bin ich verheiratet, habe einen Sohn und lebe wieder in Quillacollo, ganz in der Nähe von «Tres Soles».

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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