Die Kartenwerkstatt

  29.01.2019 Leserbeitrag

«Wir erfinden ständig neue Motive, weil wir unsere Karten besser verkaufen und unsere Kreativität entwickeln möchten», steht auf einem Holzschild, das in unserer Kartenwerkstatt an der Wand hängt. Werkstatt ist eigentlich zu viel gesagt. Es handelt sich um zwei farbverschmierte Tische und ein paar Stühle, die auf dem Gang im ersten Stock über dem Innenhof von Tres Soles stehen, von wo aus Türen zu den einzelnen Zimmern führen. Nachdem ich in den letzten Bolivienspalten unsere Nähwerkstatt ausführlich vorgestellt habe, wende ich mich heute, wie die Überschrift verrät, der Kartenwerkstatt in «Tres Soles» zu. Wer also an den Karten arbeiten will, bringt Farbe, Pinsel und benötigtes Material mit, setzt sich dorthin und beginnt zu malen. Die Kartenwerkstatt entstand bereits im ersten Jahr von «Tres Soles» und besteht nunmehr seit fast 30 Jahren, weil die Jugendlichen auf irgendeine Art und Weise vernünftig beschäftigt werden mussten und wir ihnen die Möglichkeit geben wollten, etwas Geld zu verdienen, damit sie nicht wieder auf die Straße gingen, um Schuhe zu putzen oder zu stehlen. Die Kartenwerkstatt ist daher nicht als Maltherapie zu verstehen, sondern unter den vielfältigen Möglichkeiten alternativer Erziehung eher als Erziehung durch Malen zu betrachten, durch die Werte und Fähigkeiten wie Fleiss, Kreativität und Feinmotorik vermittelt werden können. Ein grosser Unterschied besteht auch in der Auswahl der Motive. Während bei der Maltherapie die Motive «aus der Seele» kommen, müssen wir in der Malwerkstatt darauf achten, dass sie «verkäuflich» sind, so sind es etwa Landschaften und Szenen aus dem bäuerlichen Leben. Wie schon bei dem Thema «Maltherapie» geschildert, müssen wir immer wieder aufs Neue darauf achten, dass die Jugendlichen nicht dunkle Baumskelette, schwarze, geierartige Vögel und Ströme von Blut auf die Karten malen, die eben nicht so recht auf Geburtstags- und Weihnachtskarten passen wollen. Auch wenn die Karten zum Verkauf bestimmt sind, so bin ich jedoch der Meinung, dass Malen immer und «in sich» therapeutisch ist, denn der Umgang mit Farbe und Papier wirkt auf alle Fälle beruhigend und entspannend. Wie bei allen Kunstformen, die zur Therapie und Erziehung verwendet werden, ist ausserdem der Einfluss auf die Förderung des Selbstbewusstseins nicht zu unterschätzen. Allerdings ist das Herstellen dieser Karten nicht ganz so einfach, wie manch einer denken mag: Zuallererst muss die Karte aus einem Papierbogen in der richtigen Grösse zugeschnitten werden, dann wird die Grundfarbe aufgetragen. Die Jugendlichen, die mindestens 13 oder 14 Jahre alt sind, suchen sich entweder eine Vorlage aus einem Buch oder aus einer Zeitschrift aus, fertigen eine Schablone für ihre Arbeit an und beginnen, an einer ganzen Serie von 20 bis 30 Karten mit Stift und einfacher Wasserfarbe zu arbeiten. Wenn sie einmal eingearbeitet sind, fertigen sie ihre Karten völlig selbständig, ohne dass sie Hilfe benötigten. Oft sieht man drei bis vier Jugendliche, Jungen und Mädchen, an einem Tisch arbeiten, während sie Musik hören und über Alltägliches oder Klatschgeschichten plaudern, die es in der Wohngemeinschaft immer reichlich gibt: «Stellt euch vor, der Harold mit der Mery …»

Wenn jedoch neue Jugendliche angelernt werden müssen, hat Guisela, meine Frau, ziemlich viel Arbeit mit ihnen. «Am Anfang sind alle begeistert, weil sie wie die anderen schnell Geld verdienen wollen. Wenn sie dann allerdings sehen, dass sie recht viel Fleiss und Geduld aufbringen müssen, ist die Begeisterung schnell vorbei und man muss immer wieder auf sie einreden und sogar Druck ausüben, bis dann die ersten, fertigen Karten endlich abgeliefert werden», weiss Guisela ein Lied davon zu singen. Sie setzt sich zu ihnen und unterstützt sie beim Malen mit unendlicher Geduld. «Hier musst du noch etwas Rot auftragen», hört man sie sagen oder: «Diese Bergspitze muss sorgfältiger ausgemalt werden.»

«Aber ich habe sie doch schon zweimal übermalt!», protestiert Ruth und verzieht entnervt ihr sonst so sympathisches Gesicht. Sie hat erst vor ein paar Wochen ihre erste Serie begonnen und wird einfach nicht fertig damit.

« Die Farbe Weiss deckt eben nicht so gut. Du musst das noch einmal übermalen, du kommst leider nicht darum herum.»

«Und wenn ich es nicht mache?» Fragen und Antworten dieser Art sind typisch für Ruth. Sie ist immer ein wenig keck.

«Dann nehme ich dir die Karte nicht ab und du bekommst kein Geld, ganz einfach...»

In Fällen wie diesen muss Guisela dann hin und wieder einen Trick anwenden. Wenn Ruth oder Fernando, ein anderer der Anfänger, ihre Pinsel auf den Tisch schleudern und mit einem erzürnten «Ich mag nicht mehr» den Tisch verlassen, nimmt Guisela ihre Zeichnungen und führt einige, kleine Verbesserungen aus: Da wird eine Linie begradigt, hier werden ein paar Verzierungen hinzugefügt oder eine Farbe wird verstärkt. Wenn die besagten Jugendlichen später abschliessend ihre Bilder lackiert und teilweise mit buntem Stoff unterlegt haben und sie auf das schon vorgefaltete Kartonpapier kleben, können sie kaum glauben, was sie sehen: «Was? Das habe ich gemacht?»

«Ja, das hast du gemacht», erwidert dann Guisela und schmunzelt.

Die Karten wurden und werden fast ausschliesslich in Europa vertrieben, denn sie sind kleine, von Hand gefertigte Kunstwerke, die ihren Preis haben, umso mehr, als auch die Umschläge mit kleinen, lackierten Motiven verziert sind und häufig sogar mit Stickern verwechselt werden. Ebenso wie von den über sich selbst erstaunten Jugendlichen ist dann häufig von erstaunten Kunden ein «Was? Das haben die gemacht?» zu hören. Bedauerlicherweise dauert es meistens nie lange, bis das Jugendamt wieder etwas zu beanstanden hat. Dazu gehört, dass das Jugendamt permanent den pädagogischen Wert solcher Aktivitäten ignoriert und uns seit Jahren vorwirft und weiterhin vorwerfen wird, nicht zum ersten Mal und nicht zum letzten Mal, dass wir uns an den Produkten der Jugendlichen bereichern. Es stimmt, wir waren mit unseren Karten durchaus erfolgreich, früher mehr als heute, da Kartenschreiben aus der Mode gekommen ist. Wir waren ständig mit der Produktion im Verzug und trotzdem reichte die produzierte Menge nicht aus, um damit wirklich Geld zu verdienen. Es reichte gerade, um die Kosten und einen bescheidenen Anteil am Gesamtbudget der Wohngemeinschaft zu decken. Die Jugendlichen werden für ihre Arbeit ordentlich bezahlt, damit sie sich vor allem Kleidung kaufen können, aber auch ein Radio, einen Stick und anderen elektronischen Krimskrams, auf den sie dann stolz sind: «Das gehört mir! Das habe ich mir selbst verdient!» Auf diese Art wird ein wertvolles Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben, zwischen Gemeinschaftssinn und persönlichem Eigennutz erreicht, was eben nötig ist, um das freie, menschliche Schaffen zu ermöglichen und zu fördern, mögen Ultrakapitalisten und Ultrakommunisten sagen, was sie wollen.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: «Tres Soles», 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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