Mit dem Wolf leben

  18.01.2019 Natur, Interview, Schweiz

Grossraubtiere wie Wolf, Luchs und Bär sind in der Schweiz geschützt. «Die Tiere sind nicht vom Aussterben bedroht», findet Nationalrat Erich von Siebenthal und fordert ein Grossraubtiermanagement. Verena Wagner von Pro Natura Bern entgegnet: «Die Population reguliert sich via Beutetierdichte selbst.»

BLANCA BURRI
Die Meinungen über den Wolf gehen weit auseinander. Die Gegner sehen einen grossen Zusammenhang zwischen der sinkenden Zahl von bewirtschafteten Alpen und der Präsenz des Wolfs. Die Wolfbefürworter unterstützen diese Theorie nicht. Sie vermuten andere Gründe für diese Tendenz. Nationalrat Erich von Siebenthal und die Präsidentin von Pro Natura Bern, Verena Wagner, trafen sich zum Gespräch mit dem «Anzeiger von Saanen».

Was sind die Gründe?
Für Erich von Siebenthal ist der Zusammenhang zwischen weniger bestossenen Schafalpen und dem Wolf eindeutig (siehe Interview). Da hält Verena Wagner entgegen. Wenn man die Gründe aufzeigen wollte, müsste man nicht nur das Thema Grossraubtiere analysieren, ist sie überzeugt. «Weitere Faktoren wie Topografie, Strukturwandel, Agrarpolitik sowie gesellschaftliche Veränderungen müssen in die Analyse einbezogen werden», fordert sie. Die Schafhaltung gehe in der ganzen Schweiz zurück. Sehr viele Schafzuchtgenossenschaften hätten Mühe, Nachfolger zu finden. «Eine Überalterung der Hirten und Älpler und Genossenschaften ist eine Tatsache», betont sie. Deshalb sei sie gespannt, was die Untersuchungen ans Tageslicht brächten und wie die Faktoren gewichtet würden.

Es geht um Geld
«Um die Entwicklung der Grossraubtiere zu beobachten, betreibt der Bund einen sehr grossen Aufwand», sagt Erich von Siebenthal. Verena Wagner widerspricht: «Der Bund betreibt nicht mehr Aufwand als bei allen anderen Tier- und Pflanzenarten der Schweiz.» Erich von Siebenthal befürchtet, dass man mit den Forschungen der Grossraubtiere nur ein Ziel habe: die Rechtfertigung der Anwesenheit der Grossraubtiere in der Schweiz. Er sagt: «Es kann nicht sein, dass alle Massnahmen immer nur zugunsten der Grossraubtiere getroffen werden und die Älpler alles auf sich nehmen müssen.» Besonders störend findet er, dass gewisse Interessengruppen gegen die Alpwirtschaft sind: «Es gibt gewisse Interessengruppen, die es am liebsten hätten, wenn sich die Alpwirtschaft aus Tälern und Alpen zurückziehen würde, dann wäre das Problem gelöst.» Das sieht Verena Wagner ganz anders. «Es gibt ein Grundrecht auf die Alpsömmerung. Dieses bestreitet Pro Natura nicht.» Pro Natura befürworte eine angepasste alpwirtschaftliche Nutzung. Die heutige Agrarpolitik wolle die Alpbewirtschaftung in eine andere Richtung lenken. Sie fordert, dass sich alle Schafhalter daran halten. Aber leider gebe es noch immer sehr viele Standweiden, also grosse Weidegebiete, die nicht unterteilt werden. Die Schafe halten sich mehrere Wochen darin auf. Das heisst, dass es bei den Liegeplätzen und an Orten, wo sich die Schafe oft aufhalten, grosse Bodenschäden bzw. Erosion geben kann. Von den rund 800 Alpen würden noch immer die Hälfte als Standweiden betrieben, weiss Wagner. Die Tiere bewegten sich darin meist ungeschützt frei und somit drängten sie auch in Gebiete vor, in denen sie gemäss den Richtlinien der Direktzahlungsverordnung nichts verloren hätten: Moränen, Gletschervorfelder und Wald. In eben diesen Schutzbestimmungen heisse es, dass man die Tiere einmal pro Woche kontrollieren müsse. «Wir wissen, dass diese Forderungen oft nicht eingehalten werden.» Deshalb sagt sie: «Ich finde es eine Beschönigung der Situation, wenn man sagt, dass die intakte Alpenlandschaft Schaden nimmt, wenn nicht mehr gesömmert wird.»

Die Agrarpolitik schafft Anreize für behirtete Herden, Herdenschutz oder für die Schafhaltung in einer Umtriebsweide. Bei der Umtriebsweide wird die gesamte Fläche in einzelne Teilflächen abgezäunt, wohin die Schafe alle paar Wochen getrieben werden. Beide Sömmerungsarten seien jedoch sehr aufwendig. «Es braucht einen Hirten, der die Schafe im Griff hat, sich um sie kümmert und sie regelmässig auf Verletzungen und Krankheiten kontrolliert», sagt Wagner

Hohe Subventionen
Dass die Landwirtschaft für die grosse Arbeit, die sie verrichte, nicht entschädigt werde, sei falsch, betont Wagner. Die Schafhaltung werde nämlich jährlich mit 21 Mio. Franken subventioniert. Auch könne man Beiträge für die Schafkäseproduktion abholen und einheimisches Lammfleisch werde durch Kontigentierung der Importe bevorzugt. «Die Behauptung, dass Kanton oder Bund die Schafhaltung vernachlässigt und die Grossraubtiere mehr gewichtet, finde ich unredlich», deklariert sie. Herdenschutz sei für eine sichere Alpsömmerung matchentscheidend und kostet weniger als 3 Mio. Franken jährlich. Wenn man die Schafe wochenlang unbeaufsichtigt auf den Alpen lasse, müsse man sich zudem nicht verwundern, wenn sie «verloren gingen» oder es Risse gebe. Und gebe es einmal einen Riss, so werde er vom Bund fair und unbürokratisch entschädigt.

Abschüsse bringen nichts
Die Wölfe auf Vorrat abzuschiessen, bringt aus der Sicht von Pro Natura nichts, so Wagner. «Wölfe kennen keine Landesgrenzen. Sie wandern auf dem ganzen europäischen Alpenbogen hin und her.» Bei einem Abschuss werde das frei gewordene Revier von einem neuen Wolf besetzt. Vielmehr müsse man lernen, Regeln für das Zusammenleben zu entwickeln und einzuhalten. Im Gegenteil: «Es gibt Hinweise, dass durch den Wolf die Verbisschäden durch das Wild in den Wäldern deutlich zurückgingen, vor allem in Gebieten mit Wolfsrudeln.»

Herdenschutz: für Tourismus schwierig
Eine zusätzliche Herausforderung sei es, den Herdenschutz und den Tourismus unter einen Hut zu bringen. Schon viele Wanderer mussten ihre Tour abbrechen, weil sie sich von einem Herdenschutzhund haben vertreiben lassen. «Wir setzen auf Informationen und Ausbildung», hält Verena Wagner fest. Wenn man einige Verhaltensregeln einhält, ist die Querung einer Weide kein Problem, ist sie überzeugt. Zudem sollten aus ihrer Sicht Wanderwege mit einem Zaun abgetrennt oder umgeleitet werden. Der Nationalrat schüttelt den Kopf: «Wenn man einen Wanderweg auszaunen will, muss man zwei Zäune stellen. Das gibt viele Kilometer». Es wäre unglaublich aufwendig, auch weil der Zaun sehr stabil sein müsste, um Wintereinbrüchen im Sommer zu trotzen. Auch er plädiert für Aufklärung. «Es ist nämlich für viele Gäste eine neue Herausforderung, mit Hunden umzugehen, deren Halter nicht anwesend sind.» Er sei froh, dass es im Saanenland wenige Herdenschutzhunde gebe. Bei einer unliebsamen Begegnung mit einem zähnefletschenden Hund gehe die Begegnung bei Gästen tief. «Man muss die Gäste auf solche Situationen vorbereiten.» Pro Natura wird künftig noch aktiver sein und noch mehr Exkursionen anbieten, in denen der Umgang mit Herdenschutzhunden gelernt werden kann

Kleine Schafzüchter sind verbunden
Damit solch grosse Unterfangen umgesetzt werden können, plädiert Verena Wagner, dass Schafweiden flächendeckend fach- und tiergerecht bewirtschaftet werden. Die anderen werden zum Teil eingehen, ist sie überzeugt. «Man muss Prioritäten setzen.» Sie ist überzeugt, dass die Landwirte im Saanenland sehr verwurzelt sind und dass sie die Weideflächen anders als mit Schafen bewirtschaften werden. «Es gibt hier sowieso sehr wenige Schafe», meint sie. Erich von Siebenthal entrüstet sich: «Das kann man doch nicht vom Schreibtisch aus machen. Die Familien sind mit den Traditionen verbunden und geben die Schafzucht nicht einfach auf, auch wenn sie in der Regel nicht grosse Bauern sind.» Er setzt sich weiterhin dafür ein, dass Wolf, Luchs und Bär in der Schweiz reguliert werden können. Nicht nur der Landwirtschaft wegen, sondern auch wegen all den Leuten, die sich im Erholungsraum Natur aufhalten: «Es gibt immer mehr Menschen, die sich in der Natur aufhalten.» Erich von Siebenthal betont, dass er keine Ausrottung der Grossraubtiere wolle, aber: «Ich will, dass es möglichst keine Konflikte gibt, daher braucht es eine Regulierung wie bei allen anderen Wildtierarten.»

www.herdenschutz.ch


Erich von Siebenthal
Nationalrat SVP, Berglandwirt, Präsident Schweizerische Alpwirtschaft und Präsident Berner Waldvereinigung

«Luchs und Wolf sind nicht vom Aussterben bedroht. Als Präsident der schweizerischen Alpwirtschaft ist es für mich wichtig, dass die Alpwirtschaft auch in Zukunft ihren Auftrag wahrnehmen kann. Deshalb braucht es eine Lösung im Zusammenhang mit den Grossraubtieren. Grossraubtiere reissen Nutztiere, was für die Alpwirtschaft eine grosse Herausforderung ist, denn sie stösst, was Ressourcen und Wirtschaftlichkeit angeht, an ihre Grenzen.»


Verena Wagner
Präsidentin Pro Natura Bern

«Grossraubtiere und der Umgang mit ihnen sind ein wichtiges Schwerpunktthema bei Pro Natura Bern und Pro Natura. Wir sehen im Moment weder bei Luchs, Wolf noch Bär einen Handlungsbedarf für ein weitergehendes Management. Das Vorhandensein der Beutetiere reguliert den Bestand der geschützten Grossraubtiere ganz natürlich von selbst.»


ERICH VON SIEBENTHAL IM INTERVIEW

«Ich möchte das Risiko nicht»

Erich von Siebenthal erklärt, weshalb er sich für eine Regulation einsetzt.

BLANCA BURRI

Erich von Siebenthal, gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang der bewirtschafteten Alpen und dem Grossraubtier?
Schweizweit gibt es zunehmend Älplern, die sagen: « Ich bin nicht mehr bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen, nicht zu wissen, was mich auf meiner Alp jeden Morgen erwartet.» Es geht darum, dass sie nicht wissen, wann sie auf gerissene Tiere treffen.

Wo befinden sich besonders ausgesetzte Gebiete?
Das ist Inhalt des Vorstosses, den ich eingereicht habe, und der vom Ständerat unterstützt wird. Wenn die Auswertungen vorliegen, kann ich mehr darüber sagen.

Auf welche Daten wird man sich bei der Evaluation stützen?
Jede Alp, die bewirtschaftet wird, ist im Beitragssystem erfasst. Sobald die Alp nicht mehr bestossen wird, fällt sie aus diesem System, und somit kann man beim Kanton sehr einfach erforschen, wo sich die Flächen befinden und wie gross sie sind.

Wie gross ist die Hemmschwelle, eine Alp aufzugeben?
Bevor eine Alp aufgegeben wird, ergreifen die Älpler oft Schutzmassnahmen. Weil es aber unter den Schafhaltern auch solche mit wenigen Tieren gibt, die kleine offene Flächen unterhalb der Waldgrenze bestossen, sind diese Schutzmassnahmen nicht immer umsetzbar. Wenn diese Flächen aufgegeben werden, wächst sie in kurzer Zeit mit Büschen und Bäumen zu. Erste Anzeichen sieht man in den Alpkantonen. Auch bei uns im Saanenland und Simmental, aber vor allem im Wallis, Graubünden und im Kanton Waadt.

Wo gibt es im Saanenland konkret Schafbewirtschaftung?
Gelten, Wistätthore, Gifer, Wasserngrat und Primelod. In tieferen Lagen ist die Schafhaltung im Saanenland nicht so ausgeprägt, aber dennoch eine wichtige Nische – weil es noch viele junge Landwirte gibt, die eine Landwirtschaft mit Rindviehhaltung betreiben. So helfen sie mit, dass noch möglichst alle Flächen gut bewirtschaftet werden.


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