Reformation als ein Versuch, zu dem von Jesus in Gang gesetzten Familienmodell zurückzukehren

  25.01.2019 Kirche

KORNELIA FRITZ
Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob, Jakob zeugte Juda und seine Brüder, Juda zeugte Perez und Serach aus Tamar, Perez zeugte Hezron, Hezron zeugte Ram, Ram zeugte Amminadab, Amminadab zeugte Nachschon usw. Jakob zeugte Josef, den Mann der Maria, aus welcher Jesus, der Christus genannt wird, gezeugt wurde.

Liebe Leserinnen, liebe Leser
Haben Sie sich schon einmal mit der Auflistung der am Anfang der Weihnachtsgeschichte stehenden Ahnenreihe im Matthäusevangelium auseinandergesetzt und nicht recht gewusst, was Sie mit diesen Angaben anfangen sollen? In dieser Ahnenreihe folgt Sohn auf Sohn bis zur Zeugung von Jesus, wo die Reihe unterbrochen wird. «Josef ist der Mann der Maria, aus welcher Jesus, der Christus, gezeugt wurde.» Mit dieser Unterbrechung wird ausgesagt, dass Jesus der Sohn des Höchsten ist. Dieser Unterbrechung der Ahnenreihe bei der Geburt Jesu widmet der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Bestseller «Die schrecklichen Kinder der Neuzeit» ganze 34 Seiten direkt und 455 Seiten indirekt. Denn Jesus verhält sich in seinem Leben tatsächlich exakt nach dieser Unterbrechung. Jesus weist jegliche familiären Bindungen immer wieder zurück. Als Zwölfjähriger geht er in den Tempel und gibt seinen besorgten Eltern die Antwort, dass der Tempel sein Vaterhaus sei, dass er zu ihm gehöre und nicht zu ihnen. Bei seiner Taufe wird Jesus von einer Stimme aus dem Himmel als Gottes Sohn adoptiert. Seinen Pflegevater Joseph erwähnt er nie, er verbannt auch den Gebrauch des irdischen Vaternamens mit der Aussage: «Und ihr sollt niemand Vater heissen auf Erden, denn einer ist unser Vater, der im Himmel ist.» (Math. 13) Auch zu seiner Mutter Maria scheint Jesus ein distanziertes Verhältnis zu haben. «Was habe ich mit dir zu schaffen?», antwortet er ihr auf der Hochzeit zu Kanaan. «So jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sein Leben, der kann nicht mein Jünger sein.» (Lk 14,26) Man könnte noch andere solcher familienfeindlicher Aussagen aufreihen. Mit diesem, seinem Verhalten hebt Jesus einen jahrtausendalten Generationenprozess auf westlichem Boden aus den Angeln und wandelt die biologische Fortpflanzungslinie von Sohn zu Vater zu Grossvater zu einer reinen geistigen Nachfolgeordnung um.

In der neuen christlichen Gemeinde soll es nur noch Kinder Gottes geben oder Brüder und Schwestern in Christus. Die realen Väter im alten Stil, sie werden nicht mehr erwähnt. Herkunft und Stammbäume verlieren völlig ihre Bedeutung. Mit dieser spirituellen, geistigen Fortpflanzung wird eine neuartige Traditionsreihe ins Leben gerufen. Wer ein Kind Gottes ist, braucht keine bärtigen Vorfahren mehr. Auch nach den Vorstellungen des Apostels Paulus soll ein neues Volk aus Getauften entstehen. Ihre Mitglieder sollen aus dem Bann der Herkunft und Familienzugehörigkeit befreit sein. Die sakramentale Eingliederung in die spirituelle Familie geschieht im Akt der Taufe.

So wenig gute Werke und Gesetze zum Heil führen, so wenig kann die Abstammung von Abraham oder einem anderen irdischen Vater Erlösung bewirken. An Stelle der Herkunft tritt die Nachfolge. Wir zeugen nicht mehr, wir taufen und gliedern Menschen in den Leib Christi ein. Wir pflanzen uns nicht fort, wir lehren und bekehren. Wir glauben nicht mehr an eine Zukunft, die in den eigenen Kindern liegt. Wir bereiten uns auf eine völlig andere Welt vor. Durch die Auflösung der natürlichen Zeugungsreihe entsteht in der westlichen Welt eine soziale Neubildung von gegenseitigen familiären Beziehungen, es entsteht die Kirche.

Das neue Modell der «heiligen Familie» spaltet die Vorstellungen der europäischen Erbfolgelinie in eine biologische und eine apostolische Nachfolgelinie. Von dieser Unterbrechung aus, die im Stammbaum von Jesus ist, betrachtet Peter Sloterdijk nun die ganze europäische Geschichte. Im europäischen Geschichtsverlauf sieht er die andauernde Auseinandersetzung von zwei verschiedenen sozialen Familiensystemen, die sich beide um Macht und Einfluss streiten. Die römisch-katholische Kirche mit ihrem neuen spirituellen Familienmodell bildet eine Gegenmacht zu den alten Herrscher- und Adelsfamilien, die ihrerseits um ihre alten Privilegien kämpfen, die sie aus der leiblichen Herkunft herleiten.

Doch die aus der patriarchalen Ordnung herausgelöste Kirche wird schon bald von einer neopatriarchalen Ordnung wieder eingeholt. Zwar können in der apostolischen Nachfolge nur Söhne auf Söhne folgen, unter Auslassung biologischer Vaterschaft, trotzdem wird der von Jesus verbotene Vaterbegriff wieder eingeführt. Ein neues hierarchisches Vätersystem von Kirchenvätern, Wüstenvätern, Beichtvätern, dem Pater und dem Papst, dem Abt, dem Abbé entsteht. Die kirchliche Ordnung der Kinder Gottes restauriert sich in einen hierarchisch gegliederten Apparat von Klerikern zurück. In der protestantischen Reformation sieht Sloterdijk deshalb nichts anderes als den Protest gegen die neue Hierarchie, die sich in der römisch-katholischen Kirche auf geistlicher Ebene neu aufgebaut hat. Die Reformatoren stellten der römisch-katholischen Kirche ihr vaterloses und hierarchieloses Familienmodell gegenüber, das aus Brüdern und Schwestern gebildet wird, so wie es Jesus gewollt und gefordert hat. Was nicht heisst, dass die hierarchiefreie reformierte Kirche, in der Brüder und Schwestern gleichberechtigt nebeneinander leben konnten, über Nacht vom Himmel fiel.

Doch die neu entstandene Gesellschaftsordnung setzte eine Dynamik in Gang, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt. Die christliche Identität ruft den Sohn und die Tochter aus ihrer genealogischen Herkunft heraus und stellt sie neu in die unmittelbare Gotteskindschaft hinein. Sloterdjik sieht in dieser Bewegung eine der wichtigsten Quellen des abendländischen Individualismus, die sich in unzähligen neuartigen Gruppen und Sektenbildungen manifestierte. Die neu gewonnene Unabhängigkeit von der Familie, der Sippe oder seinem Volk wurde so zu einem Impuls für unsere modernen Menschenrechte, denen wir unsere heutigen individuellen Freiheiten zu verdanken haben.


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