Rolando und seine Träume

  11.01.2019 Leserbeitrag

Rolando ist ein ganz anderer Fall als José und Faustina, deren Geschichten ich in den letzten Bolivienspalten erzählt habe, um zu zeigen, was handwerkliche Arbeit im Leben von schwer erziehbaren Jugendlichen bewirken kann. Rolando arbeitete in der Nähwerkstatt wie José und Faustina, jedoch nicht, um wie sie später als Näher/Näherin zu arbeiten, sondern, um sein Studium mitzufinanzieren. Zwar erhielt auch er ein Stipendium wie alle Studenten in unserem Studenten- und Lehrlingsheim, aber für Veterinärmedizin reichte das bei Weitem nicht aus, denn für die praktischen Arbeiten musste viel Material angeschafft werden.

Es ist schon eine Besonderheit, wenn es Jugendliche von «Tres Soles» bis zur Universität schaffen. Oft sind sie Jahre nicht zur Schule gegangen, bevor sie zu «Tres Soles» kommen, und haben derart psychische Schäden erlitten, dass sie nicht mehr reparabel sind. Das war auch der Fall bei Rolando. Er selbst erzählte stockend: «Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Sie hat mich gleich nach der Geburt einer Patin übergeben. Man sagt, dass ich das Resultat einer Vergewaltigung bin. Die Patin nahm mich nur aus Mitleid und als sie selbst Kinder bekam, begann sie mich zu vernachlässigen. Ihr Mann misshandelte mich mehr und mehr. Als ich hätte zur Schule gehen sollen, schickte er mich als Gehilfe in verschiedene Geschäfte und Haushalte. Schliesslich landete ich in einer Sockenfabrik, wo ich in der Produktion von Nylonstrümpfen arbeiten musste.»

Die Kinderarbeit ist auch heute noch, selbst während der sozialistischen Regierung von Evo Morales, eines der grossen, ungelösten Probleme Boliviens. Hunderttausende von Kindern gehen nicht zur Schule, weil sie mithelfen müssen, die Familie zu ernähren, da die Löhne der Eltern nicht ausreichen. Sie arbeiten am Strassenrand als Verkäufer und Schuhputzer, in der Landwirtschaft und in den Minen, aber eben auch in Fabriken. Wir hatten im Studenten- und Lehrlingsheim Luis Espinal einen jungen Mann, der als kleiner Junge in einer Nudelfabrik beide Arme verloren hatte. Da die Justiz ineffizient und korrupt ist, hat nie jemand die Verantwortung für diesen Unfall übernommen.

«Die Misshandlungen meines Pflegevaters waren kaum noch auszuhalten», erzählte Rolando weiter, während ihm Schweisstropfen auf die Stirn traten. Es fiel ihm sichtlich schwer, darüber zu sprechen. «Ich riss aus und fand Unterschlupf bei einem Lehrer, den ich kennengelernt hatte. Er schrieb mich in seiner Schule ein und ich konnte die verlorene Schulzeit nachholen. Er behandelte mich sehr gut, hatte aber kein Geld, um mich zu unterhalten. Die anderen Lehrer, die meinen Fleiss sahen, nahmen mich abwechselnd bei sich zu Hause auf. So etwas gibt es auch. Das habe ich ihnen nie vergessen.»

Schliesslich wurde es auch diesen Lehrern zu viel und sie nahmen Kontakt mit dem Jugendamt auf. So kam der damals Dreizehnjährige zu uns. Er, der Stadtjunge, begeisterte sich so für unseren Gemüsegarten, dass wir ihn in eine landwirtschaftliche Schule einschrieben. Es war beeindruckend, wie lernhungrig er war, obwohl er infolge seiner schwierigen Kindheit immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte. Noch bevor er zwanzig Jahre alt wurde, machte er sein Abitur und bekam ein Stipendium, um in Spanien Agrarwirtschaft zu studieren. «Es war jedoch leider nicht möglich, weil es zu viele bürokratische Auflagen gab. So hätte ich zum Beispiel die Kopien der Geburtsurkunden meiner Eltern beilegen sollen. Doch schliesslich kannte ich weder meine Mutter noch meinen Vater. Ich forschte nach, befragte meine Patin, bei der ich die ersten Jahre gelebt hatte, aber ich fand einzig und allein heraus, dass ich noch weitere Geschwister hatte, die im ganzen Land zerstreut lebten und die meine Mutter ebenfalls verlassen hatte.»

Rolando gab jedoch nicht auf. Er nahm ein Veterinärmedizinstudium an der staatlichen Universität von Cochabamba auf, half aber weiterhin in der Wohngemeinschaft mit, wo er nur konnte. Ich werde nie vergessen, wie er einmal während einer Versammlung die Jungen und Mädchen von «Tres Soles» anbrüllte. Es war schon zur Regierungszeit von Evo Morales, genau zu jenem Zeitpunkt, als wir jeden Tag damit rechnen mussten, dass unsere Einrichtung geschlossen würde. Privatinitiativen, erst recht ausländische, die Bildung und Erziehung zum Ziel haben, sind eben nicht erwünscht. Und das, obwohl «Tres Soles» eigentlich programmatisch ganz auf der Linie der Regierung ist und ich Jahre mit der sozialistischen Bewegung sympathisiert hatte. Das war sehr bitter. Hinzu kam, dass gerade wieder einmal das Verhalten von mehreren unserer Jugendlichen sehr zu wünschen übrig liess. Fast wöchentlich mussten wir dem Jugendamt neue Hiobsbotschaften berichten. «Ich werde nicht zulassen, dass ‹Tres Soles› geschlossen wird!», meldete sich also Rolando zu Wort, und wieder einmal stand ihm der Schweiss auf der Stirn. «‹Tres Soles› ist meine Familie, ich habe keine andere Familie, versteht ihr? ‹Tres Soles› hat mir alles gegeben, so wie ‹Tres Soles› euch allen alles gegeben hat und gibt, was ihr braucht. Begreift das doch endlich und hört auf, Scherereien und Ärger zu machen!»

Alle schwiegen betroffen. Im Allgemeinen war es sehr schwierig, sie zum Schweigen zu bringen. «Ihr wisst doch, wie es in anderen Heimen aussieht, zum Teufel! In der landwirtschaftlichen Schule haben wir mit 20 Mann, alle zusammengepfercht, in einem Saal geschlafen. Jeden Tag mussten wir um fünf aufstehen und fünf Stunden lang auf dem Feld arbeiten, neben der Schule. Sagt, müsst ihr das? Ihr lebt ein wahres Luxusleben, in Zwei- und Dreibettzimmern und habt jeweils ein Bad. Wir hatten für alle nur eine Dusche mit kaltem Wasser!»

Er schaute die Kinder und Jugendlichen empört an, holte Luft und fuhr fort: «Sag, Harold, willst du, dass deine Schwester in ein anderes Heim gebracht wird? Und du, Ruth, willst du von deinem Bruder Omar getrennt werden? Denn wenn ‹Tres Soles› geschlossen wird, werden Jungen und Mädchen getrennt in den verschiedenen Heimen untergebracht. Wollt ihr das?»

Die Angesprochenen schüttelten die Köpfe. «Verdient euch wie ich eure Pesos in den Werkstätten, anstatt zu stehlen. Ich werde bestimmt nicht mein ganzes Leben mit Nähen verbringen, aber schaut, es hat mir geholfen, mein Studium zu finanzieren, das sehr teuer ist. Es hat mir geholfen, meinen Traum zu verwirklichen. Und noch eins wollte ich euch sagen: Ihr sollt an eure Träume glauben!»

Alle waren beeindruckt von Rolandos Rede, auch ich, denn sonst war er kein Freund von grossen Worten. Einige hatten sogar Tränen in den Augen und versprachen Besserung.

STEFAN GURTNER


Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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