Der Rückspiegel

  08.02.2019 Leserbeitrag

E-Bikes mit Tretunterstützung bis 45 km/h müssen von Gesetzes wegen mit einem Rückspiegel ausgerüstet sein. Alle anderen Velos müssen keinen haben – aber sie dürfen einen haben. Doch die allerwenigsten Velos haben einen Rückspiegel. Denn ein Rückspiegel wirkt ja nicht unbedingt sportlich und modern. Rückspiegel erinnern eher an alte Damen- und Herrenvelos. Aber nicht alles, was altmodisch wirkt, ist unzeitgemäss. Denn ein Rückspiegel bietet letztlich ein bisschen mehr Sicherheit im Strassenverkehr – auch dann, wenn er als uncool angesehen wird. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel genügt, und schon ist man informiert über das, was im Rücken gerade passiert. Und hinter uns lauern oft mehr Gefahren, als man denkt. Mit dem Blick in den Rückspiegel kann man den nachfolgenden Verkehr im Auge behalten und so beim Überholen anderer Velofahrenden eines der grössten Unfallrisiken ausschalten. Oder Eltern haben via Rückspiegel Blickkontakt zu ihren Kindern im Anhänger oder auf dem Kindervelo. Und wer eine Radlergruppe anführt, sieht im Rückspiegel mühelos, ob alle zu folgen vermögen.

Alles in allem ist ein Rückspiegel eine praktische Sache. Aber man darf sich nicht dazu verleiten lassen, zu lange in den Rückspiegel zu schauen. Denn auch beim Velofahren gilt das, was der Theologe und Philosoph Sören Kierkegaard geschrieben hat: «Verstehen kann man das Leben nur rückwärts; leben muss man es aber vorwärts.» Wer zu lange in den Rückspiegel schaut, um immer genau im Bild zu sein, was im Rücken passiert, verliert schnell das aus den Augen, was auf einen zukommt. Und das kann schnell einmal schlimme Folgen haben.

Bei der Diskussion darüber, ob man am Velo einen Rückspiegel montieren soll oder nicht, vergisst man leicht, dass alle zu Hause bereits einen Rückspiegel haben. Denn jeder Spiegel, in den man schaut, ist im Grunde genommen ein Rückspiegel und jeder Blick in einen Spiegel ist ein Rückblick. Denn im Spiegel sieht man immer nur das, was aus einem geworden ist. Man sieht immer nur die Vergangenheit. Aber diese «Rückspiegel» zu Hause helfen, die Zukunft zu gestalten. Die Spiegel zeigen, ob man mit dem, was man im Spiegel sieht, den Mitmenschen draussen begegnen darf, oder ob das Gesicht noch etwas aufgefrischt und die Haare noch in eine bessere Lage gebracht werden müssen.

Die «Rückspiegel» am Velo und in der Wohnung sind immer auch ein Gradmesser der Selbstzufriedenheit. Wer in einen Spiegel schaut und zufrieden ist mit dem, was er oder sie da zu sehen bekommt, darf sich glücklich schätzen. Weniger glücklich ist, wer zu dem, was er oder sie im Spiegel sieht, sagt: «Derjenige, der ich sein möchte, grüsst den, der ich bin!» Aber alle haben vor dem Spiegel die Chance, die Selbstzufriedenheit zu steigern. Denn wer freundlich in den Spiegel lächelt – zu Hause oder beim Velofahren –, dem wird auch freundlich zugelächelt. Und wer verliebt in einen Spiegel schaut, wird sogleich verliebt angeschaut. Wer aber jeden Tag gleich in den Spiegel schaut, bleibt immer das, was er oder sie schon ist. Jeder Spiegel an einem Velo oder zu Hause ist ein «Rückspiegel». Aber gerade diese «Rückspiegel» können Mut und Freude machen, das Leben bewusster vorwärts zu leben.

ROBERT SCHNEITER


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote