Der Veloständer

  22.02.2019 Leserbeitrag

Alltagsvelos sind in der Regel viel «eigenständiger» als die leichten sportlichen Velos. Denn die meisten sportlichen Velos haben keinen eigenen Veloständer und können nicht selbständig irgendwo stehen bleiben. Solange die Velos in Bewegung sind, haben Veloständer kaum eine Bedeutung, ausser dass sie die sportlichen Velos ein paar Gramm schwerer machen. Erst in der Ruheposition sind Velos mit einem Veloständer im Vorteil. Denn sie können ohne fremde Hilfe ganz alleine und selbständig irgendwo aufrecht stehen bleiben. Velos ohne Veloständer können dagegen auf freiem Feld nicht aufrecht stehen bleiben, wenn «nichts mehr läuft». Sie sind auf fremde Hilfe angewiesen: Hausmauern, Kandelaber oder Bäume, an die sie sich anlehnen können, oder fest montierte Veloständer, die sie festhalten. Oder wenn keine Hilfe zur Verfügung steht, müssen sie mit dem Boden Vorlieb nehmen.

Sinnbildlich betrachtet erinnern Velos mit einem Veloständer an Menschen, die mit ihrem Leben auch dann selbständig zurechtkommen, wenn sie nicht aktiv sind und wenn gerade nichts läuft. Velos ohne Veloständer dagegen erinnern eher an Menschen, die Mühe haben, wenn nichts läuft, oder die Mühe haben, alleine zu sein. Velos ohne Veloständer erinnern an Menschen, bei denen immer etwas laufen muss, damit sie sich wohl fühlen. Aber letztlich spielt es ja keine Rolle, wie man Ruhe findet – mit oder ohne fremde Hilfe. Wichtig für die Gesundheit ist jedoch, dass man die Ruhe und das Alleinsein positiv erleben kann. Dass man sich nicht einsam fühlt, wenn einmal gerade nichts läuft.

Die «Fähigkeit zum Alleinsein» ist für die seelische Gesundheit sehr wichtig – vor allem in unserer Gesellschaft, in der die Familien oft klein sind, manche Beziehungen nicht lange halten, langzeitige Arbeitsstellen nicht mehr garantiert sind und viele Menschen sehr alt werden. Das Gefühl der Einsamkeit ist nicht nur lästig, sondern sogar schädlich. Mediziner halten Einsamkeit sogar für ähnlich gesundheitsgefährdend wie Übergewicht. Wer sich einsam fühlt, sollte sich darum an andere Menschen wenden. Auch Velos ohne Veloständer sind ja in der Ruheposition auf andere angewiesen. Die Fähigkeit, allein zu sein, ohne sich einsam zu fühlen, hilft letztlich aber auch, sich selbst zu begegnen und wichtige Antworten auf persönliche Lebensfragen zu finden.

Solch tiefgründige Gedanken über die Fähigkeit des Alleinseins und über die Last der Einsamkeit macht sich ganz sicher niemand beim Kauf eines Velos. Beim Velokauf spielen ganz sicher andere Kriterien eine wichtigere Rolle, ob man ein Velo mit oder ohne Veloständer kaufen soll. Aber es könnte trotzdem für einen ganz persönlich interessant sein, sich das nächste Mal, wenn man das eigene Velo irgendwo abstellt – mit oder ohne Veloständer –, einmal zu fragen: «Bin ich selbständig genug, um alleine aufrecht im Leben zu stehen wie ein Velo mit Veloständer?» Oder dann, wenn man das Velo irgendwo abgestellt hat und es alleine zurücklässt, könnte man sich sogar einmal fragen: «Kenne ich jemanden, den ich einmal besuchen könnte, weil er oder sie alleine ist und sich einsam fühlt?»

ROBERT SCHNEITER


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