Warum in der Kirche bleiben?

  22.02.2019 Kirche

Wer aus der Landeskirche austritt, verhält sich unsolidarisch und schwächt den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wer dies auf dem Gebiet der Kirchgemeinde Saanen-Gsteig tut, entwertet zudem Gstaad als Tourismusstandort. Warum ist das so?

In den letzten Jahren sank die protestantische Bevölkerung in den Kantonen Bern, Jura und Solothurn stetig, die Zahl der Kirchenaustritte hingegen nahm zu. Dieselbe Entwicklung findet sich in der Kirchgemeinde Saanen-Gsteig. Gewiss, sie hat auch zu tun mit Migration und Demografie, doch der Trend setzt sich fort.

Viele, die aus der Landeskirche austreten, tun dies mit folgender Begründung: «Ich nehme die Angebote der Kirchgemeinde nicht in Anspruch, ich besuche weder deren Gottesdienste noch will ich heiraten. Warum soll ich für eine Dienstleistung bezahlen, die ich nicht brauche?!?»

Ich halte eine solche Argumentation für kurzsichtig. Denn: Auch wenn ich nicht unmittelbar auf die Dienste einer Kirchgemeinde zurückgreife, ziehe ich mittelbar einen erheblichen Nutzen aus den Tätigkeiten der Landeskirchen. Dieser Sachverhalt lässt sich im Saanenland beispielhaft und in besonderer Weise zeigen:

In den Kirchen Saanen, Gstaad und Gsteig finden heuer 30 Konzerte des Gstaad Menuhin Festivals statt; die Sommets Musicaux de Gstaad laden in diesem Jahr 14 Mal in die Mauritiuskirche oder in das Kapälli Gstaad ein. Beide Musikreihen sind für die Attraktivität des Tourismusstandortes Gstaad von grosser Bedeutung. Zudem stehen die Gebäude der Kirchgemeinde Saanen-Gsteig lokalen Schulen und Vereinen für Konzerte und Veranstaltungen aller Art zur Verfügung. Eine solche Praxis ist nur möglich, weil die Kirchgemeinde Saanen-Gsteig denkmalpflegerische Aufgaben übernimmt und erhebliche Mittel aufwendet, um ihre Kirchen zu pflegen, zu unterhalten und zu erneuern. In den vergangenen zehn Jahren betrugen die Nettoinvestitionen allein für die Kirche Saanen, die St.- Anna-Kapelle und das Kapälli Gstaad rund 1,5 Millionen Franken.

Die Mieterträge für die Benützung der Kirchen vermögen die genannten Kosten nicht zu decken. Eine substantielle Erhöhung der Benützungsgebühren kommt nicht infrage, denn eine solche könnten auch die grossen Veranstalter nicht bezahlen. Zudem sind die Mietkosten für die Kirchen im Fall von lokalen Organisatoren entweder sehr gering oder fallen gänzlich weg. Deshalb ist die Kirchgemeinde Saanen-Gsteig auf die Solidarität der Bevölkerung angewiesen: Wer Mitglied der Landeskirche ist und Kirchensteuern bezahlt, trägt dazu bei, dass denkmalpflegerischen Aufgaben wahrgenommen werden können und so die touristische Attraktivität des Standortes Gstaad erhalten bleibt.

Weiter: Wer Mitglied einer Landeskirche ist, obwohl er oder sie die konkreten Angebote einer Kirchgemeinde selten oder nie nützt, unterstützt deren gesamtgesellschaftlichen Leistungen. Er oder sie bringt mit seiner Mitgliedschaft zum Ausdruck: «Mir ist wichtig, dass die Gesellschaft, in der ich lebe, solidarisch ist und bleibt.»

Denn die Landeskirchen und ihre Gemeinden verwenden sich für alte, kranke und gebrechliche Menschen, für Gestrauchelte und Versehrte. Sie setzen sich ein für Kinder, Jugendliche und deren Eltern. Sie tun dies mit Veranstaltungen aller Art, mit Seelsorge und Beratung, und zwar sowohl auf der Ebene einer lokalen Kirchgemeinde wie auch als Kantonalkirche: Die Kirchgemeinde Saanen-Gsteig unterhält ein breites Angebot in Sachen Kinder- und Jugendarbeit, sie unterstützt und begleitet Seniorinnen und Senioren, sie leistet Krisenintervention und bietet Beratungsdienste an; die Berner Landeskirche unterhält bzw. unterstützt Spital- und Gefängnispfarrämter, die Armeeseelsorge, Rechtsberatungsstellen, Einrichtungen zu Ehe- und Familienberatung, Notfalldienste wie die «Dargebotene Hand» oder das Careteam.

So entlasten die Landeskirchen den Staat und die Einwohnergemeinden, tragen bei zum Zusammenhalt der Gesellschaft und leisten einen unverzichtbaren Beitrag zu einem funktionierenden Gemeinwesen. Wer aus der Kirche austritt, verhält sich unsolidarisch und schwächt, mithin gefährdet, den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Darüber hinaus gibt es weitere, inhaltliche Gründe, um die Landeskirchen und ihre Arbeit zu unterstützen:
• Die jüdisch-christliche Tradition hat das Abendland geformt. Literatur und Kunst, Malerei und Musik, unsere Sprache und unser Denken sind entscheidend von ihr beeinflusst und geprägt. Die Landeskirchen halten die Erinnerung an diese Tradition wach. In Unterricht, Erwachsenenbildung und Gottesdiensten stellen sie überlieferte Erzählungen vor und fragen nach deren Relevanz für das Leben des modernen Menschen. Damit tragen die Landeskirchen dazu bei, dass sich Menschen ihrer Herkunft und ihrer Wurzeln bewusst werden. So unterstützen sie den Prozess der Identitätsstiftung und leiten an zu Mündigkeit. Ich halte diesen Beitrag der Kirchgemeinden insbesondere in einer multikulturellen Gesellschaft wie Gstaad für unverzichtbar. Denn nur wer weiss, wo er herkommt, vermag auf Fremde zuzugehen.
• Das Selbstverständnis des spätmodernen Menschen lautet: «Ich zuerst!» und sein liebstes Motiv ist das Selfie. Die Landeskirchen widersprechen diesem Trend zu Privatisierung und Egomanie und schärfen ein: Mensch sein heisst, Verantwortung wahrnehmen und die Welt gestalten. Diese theologische Einsicht findet ihren Ausdruck in Feiern aller Art. In Gottesdiensten und Gebeten treten Menschen für andere ein. Sie halten die Erinnerung an jene wach, die vergessen und verloren gehen, und treten für die ein, welche in Politik und Wirtschaft Verantwortung tragen.
• Die Landeskirchen begleiten von der Geburt bis zum Tod. Sie gestalten Übergänge und tragen dazu bei, dass Menschen Anfänge und Abschiede unversehrt und heil überstehen.
• Die Landeskirchen gestalten das Jahr. Sie kennen unterschiedliche Zeiten mit je unterschiedlichen Bräuchen und Riten. Damit entlasten sie und führen vor Augen: «Ich muss nicht jederzeit alles tun und haben.» In Zeiten täglicher Selbstoptimierung unterscheiden sie zwischen Werktag und Sonntag. Die Landeskirchen erinnern daran, dass der Mensch nicht der unentwegt Tätige zu sein vermag und schärfen ein: Feiern, Ruhe und Erholung sind ein unverzichtbarer Teil des Lebens. • Die Landeskirchen bezeugen eine Wahrheit, die nirgends sonst zu hören ist: Der Mensch verdankt sein Leben nicht sich selber. Er findet seine Würde unabhängig davon, was er aus sich zu machen imstande ist. Diese Einsicht vermag den spätmodernen Menschen, der vor die Aufgabe gestellt ist, sich selbst unentwegt neu zu erfinden, zu entlasten und zu befreien.
Und nun? Wenn Sie (wieder) Mitglied einer Landeskirche werden möchten, dann setzen Sie sich bitte mit dem zuständigen Pfarramt in Verbindung. Und jenen, die uns die Treue halten, danken wir herzlich!

BRUNO BADER


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote