Als leblose Helden kehrten sie ins Saanenland zurück

  05.03.2019 Saanen, Unfall, Saanenland, Kirche

Vor knapp hundert Jahren erschütterte der Absturz von zwei einheimischen Ballonfahrern das Saanenland. Eine Gedenktafel erinnert noch heute an das tragische Unglück.

SARA TRAILOVIC
«Zum ehrenden Andenken an (...) Christian von Grünigen und Ferdinand Wehren, Bürger der Gemeinde Saanen, deren Ballon vom Blitz getroffen bei Mall (Belgien) am 21. September 1923 abstürzte», las ich auf der einzigen Gedenktafel an der Kirche in Saanen. Ich wartete eine Weile auf der Bank unterhalb der Inschrift, in der Hoffnung, jemanden nach der Tafel fragen zu können. Doch niemand verirrte sich zum Hintereingang der Mauritiuskirche. Grübelnd verliess ich den kraftvollen Ort und machte mich auf die Suche nach Antworten.

Niemand rechnete mit der Todesgefahr
Zuerst wendete ich mich an Benz Hauswirth. Der Lokalhistoriker durchsuchte das alte Archiv und wurde rasch fündig. Am 3. Oktober 1923 hatte der «Anzeiger von Saanen» in einem ausführlichen Bericht den Verlauf des Unglücks beschrieben. Ich hielt die bräunliche Kopie in den Händen und entzifferte Satz um Satz die alten Schriftzeichen.

Christian von Grünigen aus Saanen und Ferdinand Wehren aus Schönried reisten mit ihrem Ballon «Genève» nach Brüssel, um am 12. Gordon-Bennett-Wettfliegen teilzunehmen. Das Wetter am Tag des grossen Rennens zeigte sich zu Beginn äusserst gnädig. Bei Sonnenschein und ruhigen Windverhältnissen überprüften Fachmänner den Zustand der 21 Ballone aus ganz Europa. Als die letzten Kubikmeter Gas eingelassen wurden, verstärkte sich der Wind und in der Ferne zogen Gewitterwoken auf. Doch von Grünigen und Wehren waren sich ihres Könnens sicher. Niemand ahnte, was den Piloten bevorstand.

Als das Rennen um vier Uhr startete, mussten die Ballonfahrer sogleich viel Ballast abwerfen, um eine Kollision mit den nahestehenden Gebäuden zu verhindern. Sandsäcke flogen durch die Luft, nur durch Glück blieben alle Zuschauer unverletzt. Kaum war der letzte Ballon in der Luft, fing es in Strömen zu regnen an.

Der ursprüngliche Plan der beiden Saaner Piloten war es, möglichst hoch über die Regenwolken hinwegzukommen, doch ein starker Luftstrom trug «Genève» in nordöstliche Richtung fort. Schnell verschwanden alle Ballone aus dem Blickfeld derjenigen Zuschauer, die dem Sturm zum Trotz noch dastanden. Von Grünigen und Wehren waren nun auf sich alleine gestellt. Die Wettkampleitung stufte die Lage als zumutbar ein, da ein Rennen in Zürich 1909 unter ähnlichen Verhältnissen ein gutes Ende gefunden hatte. Doch der Himmel wollte es an jenem Tag anders.

Der Ballon brannte innert Sekunden
Eine halbe Stunde nach dem Startschuss stürzte ein spanischer Ballon ab. Die Ursache blieb vorerst ungeklärt. Für einen Abbruch des Rennens war es bereits zu spät, und so widerfuhr dem Team aus dem Saanenland um sechs Uhr abends das gleiche Schicksal. Nachdem auch noch ein amerikanisches Duo abgestürzt war, sah man sich einer höheren Gewalt ausgeliefert. Beobachter berichteten später, sie hätten einen Knall gehört und die Entzündung derBallonhülle mitverfolgt. Erst dadurch wurde klar: Blitzeinschläge waren für die Unfälle verantwortlich gewesen. Das hochentzündliche Gas hatte die Luftfahrzeuge innert Sekunden in Brand gesetzt. Von Grünigen und Wehren wurden beide tot aufgefunden. Auch die beiden Amerikaner sowie ein spanischer Fahrer erlagen ihren Verletzungen.

Rücktransport in die Heimat
Nach einer imposanten Gedenkfeier in Brüssel am 27. September mit 30’000 Menschen wurden die Toten in die Schweiz zurückgeführt.

Poetisch umschrieb der «Anzeiger von Saanen» den Rücktransport der beiden Ballonfahrer: « (…) dann ging die Fahrt hinauf in die im hellen Mittagsglanz prangende Bergheimat. Wars nicht, als ob die Berge sich mit dunklen, in weichem Blau schimmernden Trauerschleiern behängt hätte. (...) Wie oftmals sind sie dort oben auf den lichten Höhen gestanden, die nun stumm und reglos als Tote in ihre Heimat zurückkehrten.»

«So etwas gehört nicht an eine Kirche»
Die Geschichte von Christian von Grünigen und Ferdinand Wehren stellte sich zweifellos als tragisches Unglück heraus. Doch konnte und durfte das der einzige Grund für das Errichten der Gedenktafel sein?

Robert Schneiter, ehemaliger Pfarrer in Saanen, weiss viel über die Mauritiuskirche, doch auch er kann sich den genauen Ursprung der Inschrift nicht erklären. Seiner Meinung nach gehört eine solche Tafel nicht an die Kirchenfassade. «Die Gedenktafel am Kirchturm hat mich immer gestört. Das Ballonunglück hatte absolut nichts mit der Kirche zu tun, und die beiden Fahrer waren auch nicht während der Ausübung eines ‹vaterländischen› Dienstes zu Tode gekommen. Damals gab es wohl noch keine Denkmalschutzbehörde. Man kann sich also auch fragen, warum nicht alle Saaner Bürger und Bürgerinnen, die seit dem Ballonunglück auf sehr tragische Weise ums Leben gekommen sind, eine Tafel bekommen haben», so Schneiter. «Sehr wahrscheinlich waren die Verunglückten und deren Angehörige besonders vermögende Bürger von Saanen mit einem grossen Einfluss auf den Kirchgemeinderat», vermutete er. Abschliessend sagte Robert Schneiter: «Kirchen sollen daran erinnern, dass wir vor Gott alle gleich sind, ganz unabhängig davon, ob wir für die Kirche oder den Staat etwas Besonderes geleistet oder viele Kirchensteuern bezahlt haben.» Tatsächlich steht im alten Artikel des «Anzeiger von Saanen», dass von Grünigen und Wehren geschätzte Soldaten und Mitglieder zahlreicher Vereine gewesen waren. Aus diesem Grund wurden auf der Heimfahrt der Toten an mehreren Orten in der Schweiz Gedenkfeiern abgehalten, bei denen besonders viele Militärs sowie Mitglieder des Aero-Clubs anwesend waren.

Raum für Interpretation
Aus welchem Grund auch immer das Unglück genau verewigt wurde, die Gedenktafel hängt. Und mit ein wenig Hintergrundwissen kann sie auch im weiteren Sinne betrachtet werden. Ich sehe nun auf jeden Fall mehr darin, als eine Grabinschrift mit Ehrenplatz.

«Drum wer recht froh mal leben will, muss Ballönler werden», schrieb Oberleutnant E. Hitz in einem Gedicht über die Luftfahrt anno 1922. Obschon man heute nicht mehr «Ballönler», sondern «Aviatiker» wird, hat die Ballonfahrt nichts an Faszination eingebüsst. Vielleicht, weil ein Ballon wie das Leben nur begrenzt steuerbar ist. Genau das macht die Spannung von beidem aus: Auch bei bester Vorbereitung bleibt Raum für Unerwartetes.


«Heute wäre so ein Unglück nicht mehr denkbar»

Das Gordon-Bennett-Wettfliegen findet immer noch alljährlich statt. Wie sieht der Event heute aus? Léon André, OK-Präsident des letztjährigen Festivals in Bern, gab dem «Anzeiger von Saanen» Antwort.

SARA TRAILOVIC

Das Rennen vom 21. September 1923 zählt zu den ganz tragischen in der Geschichte der Ballonfahrt. Fünf Fahrer fanden den Tod, sechs wurden schwer verletzt. Wie konnte das Ihrer Meinung nach passieren?
Die Sicherheit wurde bestimmt schon damals gross geschrieben, aber die Möglichkeiten zur Unfallprävention waren noch nicht ausreichend. Den Verlauf des Unwetters konnte man damals nur grob vorhersagen. Sehrwahrscheinlich war deshalb das Abfluggewicht nicht hinreichend auf die Bedingungen abgestimmt, dadurch hatten die Ballone entweder zu viel oder zu wenig Auftrieb.

Sind die Ballone heutzutage besser lenkbar?
Nicht direkt. Die Flugrichtung wird bei der Ballonfahrt grundsätzlich vom Wind festgelegt. Die Fahrer können lediglich die Höhe bestimmen und dadurch in einen bestimmten Luftstrom gelangen. Welche Windrichtungen in welchen Höhen vorherrschen, kann heute aber sehr viel genauer bestimmt werden.

Was hat sich dann im Vergleich zum Gordon-Bennett-Rennen 1923 verändert?
Nachdem der Welt-Luftsportverband (FAI) die Sporthoheit über den Event übernommen hatte, wurde das Rennen zu einer Weltmeisterschaft. Ansonsten hat sich vor allem in Sachen Sicherheit viel getan. Alle Teams müssen Satellitentelefone und einen Tracker an Bord haben. Dadurch können Rennleitung und Zuschauer mittels Live-Tracking immer sehen, wo sich die Ballone befinden. Fast noch wichtiger ist aber das Prozedere vor dem Start. Zu Beginn des Renntages gab es in Bern ein Briefing, an dem der offizielle Wettkampfmeteorologe Peter Pöschl von SRF Meteo alle Teams mit den gleichen meteorologischen Infos versorgte. Daneben kümmerten sich zwei Experten um die Sicherheit. Werner Beyeler war zuständig für alles, was am Boden stattfand, angefangen beim Befüllen der Ballone mit dem hochentzündlichen Wasserstoff bis hin zum Schutz des Publikums durch spezielle Bereiche. Stefan Zeberli ist selber Gasballonpilot sowie Schweizer- und Europameister mit dem Heissluftballon. Er überprüfte im Auftrag der Wettkampfleitung die Sandfüll-

Das Rennen startete am Freitagabend. Gab es einen speziellen Grund dafür?
Einerseits mussten wir Rücksicht auf den Luftverkehr nehmen, vor allem den im Flugraum Zürich – dieses Problem hatte man 1923 noch nicht. Andererseits versuchten wir, einen Zeitraum mit stabilen Wetterverhältnissen zu wählen, da die Teams gestaffelt abhoben. Leicht unterschiedliche Startbedingungen gehören aber wie bei Skirennen dazu. Die letzte Startmöglichkeit wäre die Nacht auf Montag gewesen. Da es in Europa nur wenige Lastwagen gibt, die Wasserstoff transportieren, mussten diese am Montag wieder frei für andere Transporte sein.

Wie lange waren die Fahrer in der Luft?
Zwei bis drei Tage. Jedes Team stand während dem Flug mit einem eigenen Meteorologen in Kontakt. Die Wettkampfleitung war nur dafür zuständig, die Teams sicher durch die erste Nacht zu bringen.

Wäre ein Unglück wie das 1923 heute noch denkbar?
Nein, heute wäre ein rein wetterbedingtes Unglück kurz nach Start nicht mehr denkbar. Ob während dem Rennen gefährliche Situationen entstehen, hängt stark von der Risikobereitschaft der Wettkämpfer ab. Für Notlandungen im Wasser haben die Fahrer aufblasbare Rettungsinseln an Bord.

Und Fallschirme?
Das nicht. Der Ballon an sich würde einen schnellen Absturz verhindern. Aber wie gesagt, die Unfallquote geht heute gegen null.

Nimmt diese Sicherheit dem Rennen die Spannung?
Ganz sicher nicht! Die Spannung hat sich aber im Vergleich zu früher verschoben. Ballonfahrer sowie Zuschauer erhalten heute viel mehr Informationen vor und während des Wettkampfs. Der Spielraum für die Anwendung des Wissens ist jedoch sehr gross. Das macht jedes Rennen einzigartig und unvorhersehbar. Letztes Jahr hatten wir einmalige Verhältnisse. Die Routen hätten vielfältiger nicht sein können. Die Erst- und Zweitplatzierten landeten im Norden Polens und im Süden Italiens, die grosse Mehrheit folgte einem Luftstrom Richtung Westen.


WAS IST DER GORDON-BENNETT-CUP?

Der Gordon-Bennett-Cup ist die älteste Gasballonveranstaltung der Welt. 1906 in Paris fand das Langdistanzrennen zum ersten Mal statt. Es treten Zweierteams aus der ganzen Welt gegeneinander an.
Das Ziel ist es, mit dem Gasballon eine möglichst grosse Entfernung zum Startpunkt zurückzulegen. Das Heimatland der Gewinner ist jeweils der Austragungsort des übernächsten Rennens. Die Schweiz durfte deshalb schon sieben Mal Gastgeberin sein. Mittlerweile erstreckt sich der Event über mehrere Tage, da neben dem Gordon-Bennett ein vielfältiges Rahmenprogramm geboten wird, letztes Jahr zum Beispiel Aviatik-Ausstellungen, Drohnenrennen und Fallschirmabsprünge.


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