Die Pulloverärmel von Ramón

  19.03.2019 Leserbeitrag

Wie bei den anderen Werkstätten möchte ich nun anhand einiger Beispiele aufzeigen, welch positive Wirkung die handwerkliche und künstlerische Arbeit in der Kartenwerkstatt auf schwererziehbare Jugendliche haben kann. Die Geschichte von Ramón ist, im Gegensatz zu vielen anderen, die wir bereits gehört haben, recht «unspektakulär». Er kam, wie er selbst sagte, lediglich aus Neugier zu «Tres Soles», um Renato, einen etwas älteren Jungen, der das Strassenleben satt hatte, zu begleiten.

Damals erlaubte uns das Jugendamt noch ganz unbürokratisch, Kinder direkt von der Strasse aufzunehmen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie Ramón und Renato sich eines Vormittags, die Schuhputzerkisten zu ihren Füssen, auf dem Sofa in unserem Büro herumlümmelten. Ramón hörte interessiert zu, wie Renato uns seine Geschichte erzählte und warum er zu uns kommen wollte. Als wir mit ihm letztendlich alles besprochen hatten, sagte Renato zu Ramón: «Sag, willst du nicht auch bleiben, Schweinchen? Hier gibt es bestimmt gutes Essen …»
«Wozu? Das brauche ich doch nicht! Ich gehe heute noch ein paar Schuhe putzen und dann auf den Markt zum Essen», erwiderte Ramón. Der damals Achtjährige wurde «Chanchito», «Schweinchen», genannt, nicht weil er so dick war, sondern weil er einen kugelrunden, etwas überproportionierten Kopf mit kleinen, glänzenden «Schweinsäuglein» hatte. Mehr als einmal habe ich es bereits erwähnt: In Bolivien ist es allgemein üblich, jedem und allem einen Spitznamen, der sich an Aussehen, Verhalten, Fähigkeiten oder Vorlieben orientiert, zu geben und es wird – anders als es in Europa der Fall wäre – wenig Anstoss daran genommen. Was mir, neben der Tatsache, dass Ramón beim Reden stark nuschelte und kaum zu verstehen war, an ihm auffiel, waren die viel zu langen, mit Schuhwichse beschmierten Ärmel seines Pullovers, in denen seine Hände völlig verschwanden. Schliesslich war es jedoch der Duft einer köstlichen Fleischsuppe aus der Küche, der Ramóns Meinung änderte: «Ich kann ja heute mal bleiben, darf ich?»

Natürlich durfte er – und er sollte zehn Jahre bleiben. Renato dagegen, der gekommen war, um nicht mehr auf der Strasse leben zu müssen, verschwand bereits nach ein paar Tagen auf Nimmerwiedersehen, nicht ohne einen bleibenden Eindruck in negativer Hinsicht hinterlassen zu haben. In der kurzen Zeit, die er bei uns weilte, stritt und prügelte er sich so ziemlich mit allen, klaute alles, was nicht niet- und nagelfest war und schnüffelte ununterbrochen Schusterleim. Er benahm sich dermassen schlecht, dass er zum Inbegriff «schlechten Benehmens» wurde. Jahrelang hiess es noch, wenn sich jemand daneben benommen hatte: «Du bist aber ein Renato!» Das war so ziemlich das Schlimmste, was man über jemanden sagen konnte. Ramón hingegen war zwar nicht gerade ein Heiliger, aber er lebte sich schnell in die Wohngemeinschaft ein. Er verschwand nur ein einziges Mal noch mit seiner Schuhputzerkiste, aber nicht, um Schuhe zu putzen, wie wir befürchteten, sondern um sie zu verkaufen. Obwohl auch er schon früh seine Eltern verloren hatte, litt er nicht wie andere unter traumatischen Erlebnissen. Er erzählte uns: «Ich habe bei einer Tante und einem Onkel gelebt, die schon ziemlich alt waren, doch konnte ich mich nie an sie gewöhnen, obwohl sie mich nicht schlecht behandelt haben. Als ich eines Tages etwas einkaufen sollte, traf ich Renato. Der hat mich mitgenommen und seither habe ich auf der Strasse gelebt, so war das.»

Ramón kam zu Joaquín aufs Zimmer. Denjenigen, die die Vorgeschichte des Projekts nicht kennen, sei gesagt, dass Joaquín in einem sehr verwilderten Zustand zu «Tres Soles» gekommen war. Ein altes, fast schon vergilbtes Foto dieses verdreckten, liebenswerten Jungen ziert heute das Cover der spanischen Ausgabe von «Die Strassenkinder von ‹Tres Soles›». Er riss mehrere Male aus, bis er in unserer Kartenwerkstatt das Malen erlernte. Innerhalb weniger Jahre war er wie verwandelt und wurde sogar zum besten Schüler seiner Klasse. Ramón wurde zu Joaquíns Jünger – man kann es nicht anders ausdrücken. In Bolivien ist es eigentlich nicht üblich, dass ein Meister einen fremden Lehrling ausbildet. Es muss schon eine familiäre Verbindung bestehen, da stets befürchtet wird, dass die Lehrlinge später in Konkurrenz zu einem selbst gehen. Auch bei «Tres Soles» herrscht manchmal diese Einstellung. Man gibt nicht gern Kniffe oder gar «Arbeitsgeheimnisse» preis, aber es gibt immer wieder Ausnahmen: In der Nähwerkstatt gab José seine Kenntnisse an Huascar weiter, Huascar an Rolando und Rolando an Margarita. In der Kartenwerkstatt war es nun eben Joaquín, der sich Ramón annahm. Ramón, anfangs ein einfacher Gehilfe, der gerade einmal Papier zuschneiden und Grundfarben auftragen durfte, stand am Ende seinem Meister, der inzwischen eine Ausbildung als Sportlehrer abgeschlossen hatte und längst ausgezogen war, in der Kunst des Kartenmalens in nichts nach. Selten war Ramón dort zu finden, wo lärmendes Gruppenleben herrschte. Stets habe ich ihn in Erinnerung, wie er in seinem Zimmer tiefgebeugt über dem Tisch sitzt, verbissen malt und auf seiner seitlich herausgestreckten Zunge kaut. Bis er volljährig wurde, hatte er es sich immer noch nicht abgewöhnt, viel zu grosse Pullover mit viel zu langen Ärmeln zu tragen, die nun zwar nicht mehr mit Schuhwichse, dafür jedoch mit Farbe beschmiert waren, denn er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Pinsel daran abzustreifen. «Du solltest mal eine Pause einlegen und mit den anderen Fussball spielen», schlug ich vor, wenn ich manchmal, wie rein zufällig, durch die Gänge an den Zimmern vorbeischlenderte.

«Ich mache nur noch schnell die Karten fertig», gab er stets nuschelnd zur Antwort. Auch das Nuscheln konnte er sich nicht abgewöhnen.

«Und du solltest dich gerade hinsetzen, du verdirbst dir den Rücken und die Augen», konnte ich mir nicht verkneifen hinzuzufügen. Schliesslich war ich Erzieher. «Und du wirst dir die Zunge noch abbeissen.»

Ramón setzte sich dann «ordentlich» hin und verstaute seine Zunge im Mund, aber wenn man zwei Minuten später noch einmal vorbeischaute, sass er in derselben Haltung wie zuvor über den Tisch gebeugt. Was Ramón im Gegensatz zu seinem Meister Joaquín nie gelang, war ein guter Schüler zu sein. Oft vergass er seine Hausaufgaben und konnte sich, vom Malen abgesehen, für nichts so richtig begeistern. Er schaffte es auf die Kunstakademie, aber obwohl er Stunden damit verbrachte, tiefgebeugt und zungekauend, Flaschenstillleben und Früchtekompositionen zu entwerfen und mit jeder Menge Farben und Techniken zu experimentieren, waren seine Noten ungenügend. Nach zwei Jahren, als er 18 Jahre alt wurde, gab er auf. «‹Tres Soles› hat nun genug Geld für mich ausgegeben», erklärte er nuschelnd, als wir ihm eine andere Berufsausbildung vorschlugen. «Es ist Zeit, dass ich mich unabhängig mache.»

Von Pinsel und Farbe konnte er sich allerdings nicht lösen, denn er arbeitet heute als Anstreicher. Und die viel zu langen Ärmel seines Pullovers sind immer noch mit Farbe beschmiert.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: «Tres Soles», 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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