Zeitanalysen und Prognosen: Die Absturzgefahr ist gross

  29.03.2019 Leserbeitrag

Die Zeiten sind unsicher, bei vielen Menschen macht sich ein diffuses Gefühl der Bedrohung breit. Man weiss nicht so recht, ob die Welt global nur mal tüchtig durchgeschüttelt wird und sich am Ende vieles wieder einrenkt – oder ob wir vor einigen ganz bösen Überraschungen stehen. Jedenfalls sind die Zeiten so, dass uns Heerscharen von Journalistinnen, Intellektuellen, Schriftstellerinnen, Wissenschaftler und andere gescheite Leute nicht nur die Gegenwart erklären, sondern aus ihren Zeitanalysen auch noch Prognosen ableiten.

Ob all die vielen Zeitanalytikerinnen und Prognostiker mit ihren Interpretationen und Aussagen richtig liegen, kann man logischerweise erst später feststellen. Einiges wird sich als grobe Fehleinschätzung herausstellen, anderes als erstaunlich präzise Voraussage. Das war schon immer so. Im Dezember 1913 notierte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) in sein Tagebuch: «Eine wunderbare Unbesorgtheit ist über die Welt gekommen, denn was sollte den Aufstieg unterbrechen, was den Elan hemmen, der aus seinem eigenen Schwung immer neue Kräfte zieht? Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft.» Das war, wie wir heute wissen, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine etwas zu optimistische Lagebeurteilung. Der deutsche Schriftsteller Erich Mühsam (1878–1934) kam, ebenfalls im Dezember 1913, zu einem deutlich anderen Schluss: «Was in aller Welt unter dem Namen Politik vor sich ging, war der Niederschlag von Knechtsinn, Brutalität und Dummheit. Für Europa bedeutet das Jahr 1913 den Bankrott aller Staatskunst. Die ständig zunehmende Truppenpräsenz in allen Staaten muss ja einmal die Katastrophe des Weltkrieges herbeiführen.» Es dauerte dann nur noch etwas mehr als ein halbes Jahr, bis es soweit war.

Der weitgehend vergessene russische Historiker, Publizist und Bürgerrechtler Andrej Amalrik (1938–1980) hat bereits 1966 über die heraufziehende fundamentale Krise des Sowjetsystems geschrieben. 1970 erschien sein Buch mit dem Titel «Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?». Amalrik hat sich nur in der Jahreszahl leicht verrechnet, sonst hat seine Prognose ins Schwarze getroffen. John Kenneth Galbraith (1908–2006) dagegen, einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, hat noch in eben jenem Jahr 1984 der Sowjetunion ökonomisch ein recht gutes Zeugnis ausgestellt und von beachtlichen materiellen Fortschritten der sowjetischen Volkswirtschaft gesprochen, was sich bald darauf als wenig fundiert herausstellte. Und hatte irgendjemand einige Monate vor dem Zusammenbruch der DDR 1989 ernsthaft die deutsche Einheit auf dem Radar? Oder hat jemand in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts die enormen Umwälzungen, Chancen und Gefahren der Digitalisierung in ihrem wahren Umfang erahnt, obschon damals das Internet bereits existierte?

Trotzdem: Nichts ist so notwendig wie seriöse Analysen des Zeitgeschehens. Sie bieten Orientierungswissen, Entscheidungshilfen und manchmal auch leidlich brauchbare mögliche Zukunftsszenarien. Aber man sollte bei alledem nie vergessen, dass die Zukunft an sich grundsätzlich eine Blackbox ist und bleiben wird. Zu viele Faktoren bestimmen die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, um in diesem Bereich präzise Prognosen zu machen, selbst wenn sich im Nachhinein einige als erstaunlich zutreffend erweisen. Die befreiende Erkenntnis daraus: Die Zukunft ist weder vorausbestimmt noch voraussagbar und gerade deshalb gestaltbar – im Guten wie im Schlechten.

JÜRG MÜLLER
[email protected]


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