«Ich lernte mehr ausserhalb der Schule»

  02.04.2019 Nachbarschaft, Gesellschaft, Region, Abländschen

Eine charakterstarke Bäuerin blickt auf ihr Leben zurück. Elsi Gäumanns Anekdoten stehen wie ein Fels in der Brandung unserer rastlosen Zeit.

SARA TRAILOVIC
Ohne zu zögern häuft die rüstige 80-Jährige zwei Löffel Zucker in den Kräutertee vor ihr. Sie hat schon immer gewusst, was sie will. «Ich würde das haargenau gleiche Leben nochmals wählen!» Wenn Elsi Gäumann in breitem Abländschner Dialekt von ihrem einfachen Leben als Bauerntochter erzählt, fühlt man sich in eine andere Zeit zurückversetzt und sieht die heutige Welt plötzlich mit anderen Augen.

Lieblingsthema Kindheit
Am liebsten erzählt Elsi Gäumann von ihrer Kindheit in Abländschen. Ohne jammernden Unterton listet sie die Arbeiten auf, die sie schon als kleines Mädchen verrichten musste, währenddessen die anderen Dorfkinder sich Spielereien hingaben. Genau genommen konnte von «müssen» in ihrem Fall nicht die Rede sein. «Wenn mir langweilig war, ging ich Tannzapfen sammeln, Gras zetten oder ich kümmerte mich um die Geisslein – das war eine Lehre fürs Leben.»

Elf Sommer verbrachten Mutter und Tochter Gäumann auf der Alp, wo sie eigene und fremde Rinder sömmerten. «Wenn wir Ende Herbst 1000 Franken auf der Seite hatten, reichte das tipptopp für den ganzen Winter.» Das mag verrückt klingen und war tatsächlich nur möglich, weil die Familie im Verlauf der kalten Jahreszeit gerade mal fünf Liter Petrol für die Beleuchtung verbrauchte. Mit Kartoffeln, Milch und Fleisch versorgten sie sich selbst, dazu kauften sie Mais und ein bisschen Zucker.

In reiner Handarbeit bewirtschafteten sie die stotzigen Hänge, Freitage kannten sie nicht. Bei so viel Arbeit kommt einem heute das Wort Burn-out in den Sinn, doch die charakterstarke Landwirtin betont: «Das war kein Stress, wir hatten beim Misten um fünf Uhr morgens immer Zeit, den Murmeltieren zu lauschen – das war schön.» Für einen kurzen Moment wird Elsi Gäumann sentimental: «Bei der Abenddämmerung sass meine Mutter oft vor der Alphütte und jodelte, dass fast das Dach zusammenbrach.»

Alles musste funktional sein
Elsi Gäumanns Mutter musste so manchen Schicksalsschlag einstecken. Wenn im Winter Lawinen die Wasserleitungen zerstörten, trug sie tagtäglich Wasser für Vieh und Haushalt den tiefen Graben hoch, und als 1962 ein Föhnsturm die Hinterwand der Scheune eindrückte, errichtete Mutter Gäumann alles neu, ohne mit der Wimper zu zucken. Zwei Jahre bevor Elsi aus der Schule kam, suchte die Maul- und Klauenseuche die Alp der Gäumanns heim – ein besonders harter Schlag. «Alle 58 Tiere mussten wir schlachten lassen, obwohl gar nicht der ganze Bestand krank war.» Sie stutzt in ihrem Redefluss und nimmt einen Schluck Tee.

Die harten Zeiten schweissten die kleine Familie zusammen und verstärkten Elsis Durchhaltevermögen. «Meine Mutter wollte nie, dass wir uns mit anderen Kindern trafen und sahen, was diese alles besassen.» Verständlich, die Familie hatte schliesslich nur Geld für das Nötigste, alles musste funktional sein. «Ein Paar Ski hatte ich, aber nur für den Schulweg, sonst rührte ich sie nie an.» Immer an Weihnachten schenkte Elsis Patentante ihr Schokolade, Lebkuchen und eine Schachtel Farbstifte, mit denen sie stundenlang weisse Felder ausmalte – Elsi war dem Trend des Mandala-Malens voraus.

Weniger ist mehr
Was heute ein trendiger Lebensstil ist, bedeutet für Elsi Gäumann harte Arbeit und Verzicht, schlussendlich aber auch den Schlüssel zum Glück. «Heute wollen die Menschen unheimlich viel. Aber mehr als essen, trinken und schlafen kannst du mit allem Geld der Welt nicht.»

Weite Reisen machen für sie genauso wenig Sinn wie Melkmaschinen. Immer, wenn das Thema der modernen Landwirtschaft aufkommt, hebt sie empört die Stimme: «Wir haben immer alles von Hand gemacht!» Der erwirtschaftete Ertrag reichte für ein einfaches Leben, eingeschränkt fühlte sich die alte Bäuerin aber deswegen nicht. «Ich habe mein Leben noch nie als Mühe angesehen.»

«Französisch mochte ich nicht»
«Wir waren 22 Kinder, alle von ein und demselben Pfarrer unterrichtet. Plötzlich beginnt sie zu lachen. «Französisch mochte ich nicht, woher hätte ich wissen sollen, dass ich ins Welschland ziehen würde. Ich konnte keinen geraden Satz formulieren, der Pfarrer sprang auf und ab vor Wut – vielleicht habe ich auch noch etwas Unangebrachtes gesagt. Auf jeden Fall schrie er mich an, ich solle raus und mich schämen.» Sich in die Kälte schämen gehen? Das sei doch blöder Mist, dachte sich die junge Elsi. Sie sah, wie ein Bauer gemetertes Holz auf seinen Anhänger lud und begann kurzerhand, ihm zu helfen. «Erst nachdem wir ein ein schönes Fuder geladen hatten, ging ich zurück in die Klasse und sah nach dem wütenden Pfarrer.»

Ihr Besänftigungsversuch prallte am Lehrer ab, der einfach meinte: «Mein Name ist Hase.» Empört ging Elsi an jenem Tag nach Hause und proklamierte: «Ich gehe sicher nicht weiter zur Schule, wenn der Pfarrer ein Hase ist.» Daraufhin gingen Mutter und Tochter holzen, zehn Tage blieb Elsi der Schule fern. Der Pfarrer solle Schulmeister sein und nicht Hase, antwortete die Mutter auf den Mahnbrief.

Elsi besuchte die obligatorische Schule neun Jahre lang, allerdings ohne grosse Freude: «Ich lernte ausserhalb der Schule mehr.»

Der Schritt über die Sprachgrenze
Bei der Frage, wieso es sie mit 26 Jahren von Abländschen nach Rougemont verschlagen habe, beginnt sie zu lachen. «Ein Landwirt aus Rougemont war damals im Begriff, seine Gattin zu verlieren und suchte eine junge Frau, die auf seinem Bauernhof mitanpacken konnte. Elsis Mutter wusste, dass ihre Tochter das Zeug dazu hatte und unterbreitete Elsi den Vorschlag, beim 67 Jahre alten Hermann Gander einzuziehen. «Ich sah im ‹Borgeaud› eine sichere und schöne Zukunft, aber zuerst wollte ich mir den Gander ansehen», erinnert sich Elsi Gäumann an die schicksalshafte Zeit. «Meine Mutter hätte mich nie gezwungen, es war meine eigene Entscheidung.» Natürlich gefiel ihr vor allem der Hof mit seiner Lage und dem dazugehörigen Land, aber auch Hermann lag Elsi am Herzen. «Er war ein guter Mensch. Ich wollte ihn heiraten, aber mein Verlobter starb zwei Tage vor der Hochzeit an einem Herzschlag.» Als Hermann im Vorfeld sein Testament verfasste, fragte er Elsi, ob sie «ds Heimet» (den Bauernbetrieb) wolle oder Geld. Elsis Antwort liegt auf der Hand, die offiziellen Erben hingegen verlangten gleich beides. Doch Elsi Gäumann hatte schon immer einen unglaublich starken Willen gehabt. Nach einem zweijährigen Rechtsstreit konnte sie den bereits ausbezahlten Borgeaud endgültig ihr Eigen nennen. Sie sieht sich jedoch nicht selbst für ihren Erfolg verantwortlich: «Ich hatte während meines ganzen Leben unglaubliches Glück.»

Eine Insel inmitten der Berglandschaft
Nach dem Tod von Hermann Gander führte Elsi den Bauernbetrieb zusammen mit ihrem Bruder Ernst weiter. Das Land bewirtschafteten sie anfangs mit Kühen, die seien williger gewesen. 1972 kaufte sich Elsi ihr erstes Pferd – natürlich nicht zum Vergnügen. «Wie habe ich das bloss alles geschafft?», fragt sich Elsi Gäumann heute manchmal, wenn sie alleine in ihrem Bauernhaus sitzt. Ihr ganzes Leben hat sie kranke Angehörige gepflegt und gleichzeitig Hof und Haus unterhalten.

Über 50 Jahre wohnt Elsi Gäumann jetzt schon in Rougemont. Im Verlauf dieser Zeit haben sich Dutzende für den Borgeaud interessiert und ihr hohe Geldbeträge angeboten, doch Elsi ist stets standhaft geblieben. Es habe nur so gestunken vor Neid. «Der Borgeaud ist mein Paradies», sagt die rüstige Bäuerin mit glänzenden Augen.

Die weiteste Reise führte sie nach Lausanne zu ihrer Gotte und nach Spiez, wo sie Heu abholen musste. Sie sieht keinen Sinn in langen Zugfahrten und Freizeitaktivitäten. Sport? Daran habe sie noch nie gedacht. «Ich habe mich im Alltag genug bewegt.»

Männer sind «Panduren»
So traditionell Elsi Gäumanns Ansichten bezüglich Sachen Landwirtschaft sind, so emanzipiert steht sie zum Thema Partnerschaft. Das ungebundene Verhältnis der Gäumann-Frauen zu Männern war eher untypisch für die damalige Zeit. Elsis Mutter hatte sich vom Vater getrennt, als ihre Tochter fünf Jahre alt war und ihre zwei Kinder alleine grossgezogen. Elsi Gäumann meint dazu: «Es lag eben an meinem Vater. Er war aus dem Unterland und konnte sich nicht mit dem einfachen Bergleben arrangieren.»

Nachdem die Heirat mit Hermann nicht zustande gekommen war, hatte sie es noch einmal mit einem gleichaltrigen Partner versucht. Die Männer in ihrem Alter, das seien alles «Panduren» gewesen – lustige Gesellen.

«Jetzt muss ich zu meinen Pitti»
«Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank», sagte einst ein Gemeindepräsident zu ihr. «Da hast du recht, manchmal sind sie auf dem Tisch», antwortete Elsi. Ob Lehrer oder wohlhabende Kaufinteressenten, keiner konnte Elsi Gäumann je aus der Ruhe bringen. Materielle Dinge sind ihr bis heute piepegal. Ob sie sich denn gar nichts leiste? «Ich gehe ab und zu fein Essen. Mein Lieblingsrestaurant ist die Waldmatte im Chalberhöni.»

Nach knapp zwei Stunden wird die 80-Jährige langsam unruhig und zieht ihre schwarze Steppjacke an. «So, jetzt muss ich zu meinen zwei Pitti.» Pitti ist die Mehrzahl von Pitta, was im alten Abländschner Dialekt Huhn bedeutet. Elsi Gäumann gehört auf den Borgeaud wie der Zucker in ihren Tee. Plötzlich zückt ihre gute Kollegin, in deren Küche das Gespräch stattgefunden hat, ein paar leere Mandalas. Mit einem zurückhaltenden Lächeln steckt sich die Bäuerin die Blätter in ihre schwarze Handtasche. Bevor sie die Küche verlässt, stellt sie sicher, dass die richtigen Fotos ins «Blättli» kommen. Noch ein kräftiger Händedruck und freundlicher Blick, dann verschwindet Elsi durch die Haustüre in Richtung Borgeaud, als wäre nichts gewesen. Sie ist im Reinen mit sich und ihrem Leben. «Ja, ich habe es gut gemacht, ich bin zufrieden.» Eine Aussage, die man heutzutage selten zu hören bekommt. Eine schlichte Rarität, genau wie ihre Urheberin.


ZUR PERSON

Elsi Gäumann wird am ersten Januar 1939 im Bergdorf Abländschen geboren, wo ihre Mutter sie und ihren Bruder auf einem einfachen Bauernbetrieb grosszieht. Ihre Kindheit ist geprägt von harter Arbeit. Mit 26 Jahren zieht sie nach Rougemont, genauer gesagt auf den Bauernhof oberhalb des heutigen Hotels Rougemont. Auch mit ihren aktuell 80 Jahren kümmert sie sich um den traditionellen Bauernhof mit Geissen, Kühen und einem Esel.


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