Öl und Fett

  18.04.2019 Leserbeitrag

«Gut geschmiert ist halb gefahren», sagt der Volksmund. Und das, was der Volksmund sagt, gilt ganz besonders beim Velofahren. Es genügt nicht, alle Teile eines Velos richtig zusammenzusetzen, die Räder zu zentrieren, die Kette zu spannen, die Pneus aufzupumpen und Sattel und Lenkstange auf die persönlichen Masse einzustellen. Damit beim Velofahren wirklich alles schön rund läuft, braucht es auch noch Öl und Fett. Nur ein gut geschmiertes Velo fährt wirklich gut. Fehlt der Gleitfilm von Öl oder Fett zwischen den beweglichen Teilen, entstehen nicht nur störende Quietschgeräusche, sondern die trockene Reibung verursacht auch unnötigen Material- und Kräfteverschleiss. Wenn Tretlager, Kette, Nabenachsen und Lenker «auf dem Trockenen» laufen, kann das Velofahren sogar zur Qual werden.

Es ist erstaunlich, was der dünne Gleitfilm von Öl oder Fett zwischen den Reibungsflächen im positiven Sinn bewirken kann. «Gut geschmiert ist wirklich halb gefahren.» Und wenn es mit dem Velo so richtig gut geschmiert durch die Schönheiten der Natur geht, hat man vielleicht sogar Zeit, über eventuelle Reibungsflächen im Alltag nachzudenken und sich zu fragen, was man tun könnte, wenn es im Alltagsgetriebe irgendwo quietscht. Auch für den Alltag gibt es nämlich sehr wirkungsvolle Öle. Eines der wirkungsvollsten und zugleich einfachsten Alltagsöle ist zum Beispiel die Dankbarkeit. Dankbarkeit auch für die kleinsten Selbstverständlichkeiten ist ein Alltagsöl, das im Zusammenleben Wunder wirkt und sogar glücklich und zufrieden macht. Auch Freundlichkeit ist ein wirkungsvolles Öl im Getriebe des Alltags. Toleranz, die andere Meinungen und andere Lebensformen als gleichwertig gelten lässt, und Einfühlungsvermögen, das fähig und bereit ist, sich in die Empfindungen, Gedanken und Befindlichkeiten eines anderen Menschen hineinzudenken, nachzuempfinden und mitzutragen, gehören jedoch schon zu den anspruchsvolleren Alltagsölen.

Eine humoristische Anekdote erinnert daran, dass der Spruch «Schmieren und salben hilft allenthalben» nicht nur beim Velofahren wichtig ist: Eine Ziege und eine Schnecke wollten eine Lohnerhöhung beantragen. Als die Ziege zum Büro des Personalchefs kam, war die Schnecke bereits fertig. «Und, hast du die Lohnerhöhung bekommen?», fragte die Ziege. Und die Schnecke lächelte und belehrte die Ziege: «Ja, schleimen und schmieren muss man können, nicht meckern!»

Wenn in der Politik oder in der Wirtschaft tatsächlich «geschmiert» wird, dann läuft etwas nicht rund. In solchen Situationen braucht es mutige Leute, die die nötige Zivilcourage haben, an Stelle von Öl ein bisschen Sand im Getriebe der Welt zu sein, um so die Wahrheit ans Licht zu bringen.

«Gut geschmiert ist halb gefahren.» Das gilt schliesslich auch für die Philosophie des Velofahrens. Mit diesem Artikel «Öl und Fett» schliesse ich darum meine «Velosophie» ab, steige aufs Velo und erlebe die Schönheiten der Natur. Ich danke allen herzlich für das gemeinsame gedankliche Unterwegssein. Den Velofahrenden wünsche ich eine erlebnisreiche und unfallfreie Velosaison. Und ganz besonders wünsche ich allen viel Freude beim In-die-Pedale-Treten» oder beim Weiter-Philosophieren.

ROBERT SCHNEITER


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote