Der grausige Fund

  05.04.2019 Vereine

Armin Oehrli hielt in der Jubiläumsschrift 75 Jahre Bergführerverein Saanenland folgende Geschichte fest, die unter die Haut geht.

Es war Mitte September 1990, nach zwei Nächten in einer durschnittlichen Hütte des Club Alpino Italiano und einer kalten Nacht in der kleinen, dafür umso schmutzigeren Biwakschachtel am Petit Mt. Blanc hatten wir ein gepflegtes Hotel bei Courmayeur gefunden. Meine Gäste waren froh, nach den stinkenden Wolldecken wieder einmal in sauber bezogene Betten sinken zu können. Auch die auf dem kleinen Gaskocher, durch den Bergführer gebrauten Speisen, halten einem Vergleich der leckeren Gerichte eines Drei-Sterne-Hotels nicht stand. Eigentlich wollten wir weiter ins Valgrisanche, um den Testa di Ruitor zu besteigen. In Courmayeur vernahm ich aber, dass die dafür benötigte Hütte vor kurzem dem Feuer zum Opfer gefallen war. Wir beschlossen, mit Hilfe der Bahn im Mont-Blanc-Gebiet sogenannte Damentagestouren zu unternehmen. (…)

Wir wollten also am nächsten Morgen ab Bahnstation Pte. Hellbronner 3322 m ü. M. die Tour Ronde 3792 m ü. M. besteigen. Eine leichte Tour, die ich schon mehrmals als Eingehtour geführt habe. Zuerst kamen wir gut voran, da die Route ein Stück weit über die Skipiste führt. Danach verliessen wir sie und folgten einer Spur, die zum Einstieg am Südgrat der Tour Ronde führte. Zwei Seilschaften waren in der Nordwand und am Südgrat konnte ich ebenso eine Seilschaft ausmachen. Zum Normaleinstieg an der Ostflanke führte keine Spur und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass irgend etwas nicht ganz stimmte. Ich suchte während des Spurens zum Einstieg den Berg immer wieder nach etwas Aussergewöhnlichem ab. Mir fiel auf, dass auch hier eine sehr starke Ausaperung stattgefunden hatte und es lagen einige Steine unten auf dem Gletschereis. Da der Gletscher auch zurückgeschmolzen war, waren die ersten Meter im Fels etwas schwerer zu meistern als bei frühreren Besteigungen. Nach Kurzem bemerkte ich, dass auf allen Bändern viel mehr Kiesel und kleine Gsteinsbrocken lagen, als dass ich es von vergangenen Besteigungen im Kopf hatte. Wir stiegen höher und neben den Anweisungen, die ich gewöhnlich erteilte, warnte ich besonders vor dem Schutt, der viele bequeme Tritte verdeckte und die Schuhsolen nicht richtig haften liess. (…)

Was mich vielmehr beunruhigte, war die Tatsache, dass fast alle Steine, auch wenn sie die Grösse eines Bienenhauses oder eines Kachelofens hatten, mehr oder weniger unstabil waren. Es galt, sehr vorsichtig zu entscheiden, wo man hinstehen durfte und wo es erlaubt war, sich hochzuziehen. Meine Sinne waren aufs Äusserste gespannt, um die wackeligen Blöcke nicht falsch zu belasten und auch um den Damen, die sich nicht zu den eleganten Kletterern zählen, die nötigen Ratschläge zu erteilen.

Plötzlich erblickte ich einen Schuh. Einen richtigen, neumodischen Plastikschuh. Ich dachte nur, dass es hier nicht sehr günstig sei, die Schuhe abzustreifen. Nach zwei Schritten war ich dort und beim Aufheben merkte ich, dass er sehr schwer war. Ein Blick auf einen zersplitterten Knochen bestätigte, dass es sich nicht um einen verlorenen oder vergessenen Schuh handelte. Die Damen waren einige Meter hinter mir, und ich gebot ihnen, ganz ruhig zu klettern und zwischendurch auch mal den hochaufragenden Dt. du Géant hinter uns zu bewundern. Meine Blicke sprangen von Stein zu Stein und drangen in jede Spalte im Gewirr von Blöcken.

Den Schuh stellte ich hinter eine Felskannte, um ihn meinen Klientinnen aus dem Weg zu räumen. Hier entdeckte ich ein abgeschnittenes Seil, das zwischen zwei Blöcken in der Grösse von mittleren Personenwagen eingeklemmt war. Auf der anderen Seite sah ich dann auch den anderen Schuh, und alles was von seinem Träger zwischen diesen umgekippten Blöcken übriggeblieben war. So wie ich die Lage beurteilte, musste die Tragödie einige Tage zuvor passiert sein: Einige grosse Steine waren aus dem Gleichtgewicht gekommen und hatten einen Alpnisten einer Seilschaft erdrückt. Um die Damen nicht aus dem Rhythmus zu bringen, führte ich sie mit guten Ratschlägen über Griffe und Tritte an der Unglücksstelle vorbei, ohne dass sie den zerquetschten Leichnam bemerkten. Ich sehnte mich nach dem sicheren Grat und nach dem nahen Gipfel.

Für mich war die Gipfelrast mehr besinnlich als fröhlich und ich entschloss mich, über den bedeutend schwierigeren Südgrat abzusteigen, wo kein Steinschlag drohte. Mit der Wahl zwischen bequemen Betten in unserem Hotel oder Endesaisonwolldecken im Rif Torino konnte ich die Damen so beschleunigen, dass wir trotz des Umweges doch noch knapp die letzte Bahn ins Tal erreichen konnten. Erst am Abend, als ich ihnen von meiner Entdeckung erzählte und ihnen die Gefährlichkeit der ausgeschmolzenen Normalroute mit dem tragischen Tod des Alpinisten unterstrich, zeigten sie vollstes Verständnis für meinen Entscheid, über den Südgrat abzusteigen.

ARMIN OEHRLI, 1994


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