Fernando und die Kartenwerkstatt

  02.04.2019 Leserbeitrag

Fernando war ein harter Brocken. Gleich am ersten Tag, als der damals 13-Jährige zu Tres Soles kam, zettelte er während des Abendessens eine Schlägerei mit einem Jungen an. «Fernando, hör gut zu: Probleme lösen wir in Tres Soles grundsätzlich nicht mit den Fäusten», belehrte ihn Lucio, unser Psychologe. Fernando sass schweigend da, mit gesenktem Kopf, an den Schläfen blau angeschwollenen, pochenden Adern und tropfender Nase. Er war für sein Alter viel zu gross und zu dünn und aus irgendeinem Grund tropfte ständig seine Nase, auch wenn er nicht erkältet war. Die Mädchen hiessen bei ihm vom ersten Moment an nur «Kuh». Er regte sich indes schrecklich auf, wenn sie ihn im Gegenzug «Lulatsch» nannten. Die Mädchen waren mit den Jahren in der Wohngemeinschaft in der Überzahl und keineswegs mehr schüchtern oder gar eingeschüchtert. Fernando war während seiner zahlreichen Heimaufenthalte irgendwann von einer evangelischen Sekte beeinflusst worden und jeder, der nicht dieser Sekte angehörte – und das waren in Tres Soles alle ausser ihm –, wurde als «Atheist» und «Ketzer» beschimpft, und wehe, wenn ein «Gottloser» ihn nach der Bedeutung dieser Worte fragte! Es gab keine Aufgabe in der Wohngemeinschaft, die er nicht ohne Diskussionen und Beleidigungen erledigt hätte. «Bin ich etwa der Einzige hier, der den Hof fegen kann, ihr elenden Ketzer?», schrie er oder: «Was gehts mich an? Das soll doch Mery machen, die dumme Kuh!»

«Was gehts mich an?», war sein Lieblingssatz, den man mindestens zehn Mal täglich und in aller Lautstärke hörte. Die Kleineren trat oder schlug er, wenn sie es wagten, auch nur allzu nah an ihm vorbeizugehen. Er erinnerte uns an einen Jungen, den ich in der letzten Bolivienspalten kurz beschrieben habe. Sein Name war Renato und er benahm sich so schlecht, dass er zum Inbegriff des Sich-schlecht-Benehmens wurde. Jeder, der sich nicht benahm, bekam zu hören, dass er ein «Renato» sei. Im Gegensatz zu Renato, der nach wenigen Tagen ausriss und nie wieder zurückkehrte, blieb Fernando jedoch. Ein Besucher, der mit uns zusammen beim Nachmittagstee sass, beobachtete Fernando eine Weile nachdenklich und meinte dann: «Man sieht auf den ersten Blick, dass der Junge tief verstört ist.»

Ich weiss nicht, ob «verstört» das geeignete Wort ist. Eine Untersuchung ergab, dass Fernando in seiner frühen Kindheit Kopfverletzungen unbekannten Ursprungs erlitten und sein Gehirn dabei Schaden genommen hatte. «Es gibt keine weiteren Unterlagen über Fernando und er zieht es vor, über seine Vergangenheit zu schweigen», vermerkte Guisela in ihrem Bericht über Fernando. «Er erinnert sich nur verschwommen daran, dass es seine eigene Mutter war, die ihn zum Jugendamt gebracht hat. Sie war geistig behindert. In den verschiedenen Heimen, in denen er dann aufwuchs, wurde er diskriminiert und von den Erziehern misshandelt.»

Fast jährlich wurde er von einem Heim zum anderen abgeschoben und nirgends wurde man mit ihm fertig. Er verbrachte sogar einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Weder die Mutter noch ein anderer Verwandter haben ihn je besucht. Guisela meint sogar, dass man ihm wohl irgendwann eine andere Identität gegeben habe, weil niemand seinen vollständigen Namen kannte. Im Zivilregister sind weder die Mutter noch der Vater eingetragen und auch sein Alter entspricht in keiner Weise dem angegebenen. Ein paar Monate nach seiner Ankunft in Tres Soles begann Fernando, in der Kartenwerkstatt zu arbeiten. Nicht, weil er wollte, sondern weil er das Alter erreicht hatte, ab dem er sich nun Kleidung und persönliche Dinge selber kaufen und daher Geld verdienen musste. Bekanntermassen gehört das zu den Grundprinzipien von Tres Soles. Fernando stellte allerdings als Erstes klar: «Bevor ich mir Kleidung kaufe, kaufe ich mir ein Radio.»

«Wie du willst, kauf dir zuerst ein Radio», erwiderte Guisela gelassen, obwohl Fernando stets mit zerschlissenen Kleidern herumlief, aus denen er längst herausgewachsen war. Sie wusste, dass sie ihn auf irgendeine Art und Weise für sich «gewinnen» musste. Guisela tat uns allen Leid, denn mit Fernando erlebte sie in den ersten Wochen in der Kartenwerkstatt die unmöglichsten Situationen. Er war nicht in der Lage, die einfachsten Dinge zu zeichnen oder die Farbe vernünftig aufzutragen, aber er verbat sich jede Anleitung und die leiseste Kritik. Zudem beleidigte er alle Welt und schlug aus wie ein toll gewordenes Pferd, wenn jemand seinem Tisch zu nahe kam. Er brüllte, warf den Pinsel hin, liess alles liegen, schlug Türen zu … Guisela musste wieder einmal in ihre Trickkiste greifen: Bei der ersten Kartenserie, die er schliesslich ablieferte, verbesserte sie heimlich die eine oder andere Ungenauigkeit. Als Fernando seine fertig lackierten und auf gefaltetem Tonpapier aufgeklebten Bilder sah, konnte er kaum glauben, dass es sein Werk war. Mit der zweiten und dritten Serie ging es schon viel besser und bald hatte er seine Arbeit so perfektioniert, dass ihn alle wegen seines Talents und seiner Fähigkeit bewunderten. Die einfachsten Motive konnte er in ein wunderbares Gebilde von Farben und Formen verwandeln. Fernando war nicht wiederzuerkennen, wenn er in der Kartenwerkstatt arbeitete. Er sass am Tisch – grundsätzlich alleine – und malte friedlich und entspannt, während er Musik aus seinem Radio hörte. Er entwickelte die Malerei zu einem regelrechten Ritual. Die Farbtöpfchen, die Pinsel verschiedener Grössen, die Schablonen und die Karten, an denen er arbeitete, standen sorgfältig und genau ausgerichtet vor ihm auf dem Tisch aufgebaut. Mittlerweile kleidete er sich auch ordentlich und putzte sich vornehm die Nase mit einem Taschentuch, das er nach jedem Gebrauch peinlichst genau zusammenfaltete. Fernando hatte zwar immer noch aggressive Phasen und musste deshalb auch immer wieder Medikamente einnehmen, aber er war umgänglicher geworden, gab sich Mühe, nett zu sein und schaffte es sogar, mit den Mädchen zu scherzen. Einige meinten, mit Fernando sei ein Wunder geschehen. Nein, ein Wunder war es bestimmt nicht, aber die heilende Wirkung von Farbe und Papier kann man beim besten Willen nicht von der Hand weisen.

Lange hatten wir keine Vorstellung davon, wie seine Zukunft aussehen würde, ob sich die Gehirnverletzungen sozusagen auswachsen würden, ob er sich endgültig stabilisieren, ob er die Schule abschliessen würde und ob er eine Berufsausbildung würde machen können. Wir waren uns jedenfalls sicher, dass es für ihn wichtig war, seine letzten Kindheits- und ersten Jugendjahre in einem ruhigen und sicheren Umfeld verbringen zu dürfen. In vielen Fällen ist es das Einzige, was wir bieten können, komme dann, was wolle. Nun, Fernando hat inzwischen sein Abitur gemacht, seinen Militärdienst abgeleistet und soeben eine dreijährige Elektrikerlehre beendet. Rückblickend können wir es kaum fassen, was aus einem Menschen, der bereits als «abgeschrieben» galt, noch werden kann.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: «Tres Soles», 1660 Château-d»Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4.

www.tres-soles.de


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