Peer und Solveig sind wir alle

  09.04.2019 Kultur

Am Mittwoch, 3. April präsentierte die Theatergruppe des Gymnasiums Interlaken und Gstaad in der alten Turnhalle im Ebnit unter der Regie von Matthias Rüttimann und Erika Schnidrig dem zahlreich erschienenen Publikum «Peer und Solveig», ein Theaterstück nach dem berühmten Werk «Peer Gynt» des Norwegers Henrik Ibsen aus dem Jahr 1876.

MARTIN GURTNER-DUPPEREX
«Peer, du lügst!», mahnt empört Mutter Aase ihren Sohn, der wieder einmal mit seinen angeblichen Heldentaten prahlt. Mit seinen Lügenmärchen verdrängt Peer Gynt, dass sein Vater, ein Trunkenbold, den Bauernhof heruntergewirtschaftet und Frau und Sohn in bitterer Armut zurückgelassen hat. Um den Hof zu retten, möchte seine Mutter ihn gerne mit Ingrid verheiraten, einer reichen Bauerntochter, doch deren Vater hat sie bereits einem andern versprochen. An der Hochzeit entführt Peer die Braut – obwohl er sich gerade in die bescheidene, gute Solveig verliebt hat – und flieht mit ihr in die Berge. Bald langweilt ihn jedoch die Frau, er verlässt sie und zieht geächtet, für vogelfrei erklärt, in der Wildnis herum. Er verliebt sich in die Grüne, die schöne Tochter des Trollkönigs.

Am Hof des Trollkönigs
Am Hof der Kobolde wird Peer vom Trollkönig empfangen und vor eine schicksalsträchtige Wahl gestellt: «Sei dir selbst genug» nach den unseriösen Lebensmotto der Trolle – oder aber «Sei du selbst» im Sinne der Selbstverwirklichung jedes Menschenkindes. Als ihm die Grüne einen Sohn mit Schweinekopf gebiert und die Trolle ihm ein Auge schlitzen wollen, flieht Peer Gynt Hals über Kopf. Bis er den Sinn des Lebens findet, ist es für ihn noch ein sehr weiter Weg.

Solveig findet ihren geliebten Peer und möchte mit ihm gemeinsam den Lebensweg gehen. Die Grüne mit ihrer Missgeburt aber verfolgt sie und droht, ihr Lebensglück zu zerstören. Da ereilt Peer die Nachricht, dass seine Mutter gestorben sei. Er flieht erneut vor sich selbst und zieht von nun an als zielloser, skrupelloser Abenteurer durch die Welt.

Beim Knopfgiesser
Auf seinen Wanderungen trifft Peer auf den Krummen, der ihm empfiehlt, doch «aussen rum» zu gehen. Nach Erika Schnidrig könnte diese rätselhafte Figur die «convenience» repräsentieren, also festgelegte, zweckmässige Gesellschaftsnormen. Natürlich will der impulsive Bursche wieder einmal mitten durch – und scheitert kläglich.

Nach langen Irrfahrten kehrt Peer Jahre später nach Hause zurück. Dort erwartet ihn der Knopfgiesser, der Totengräber. Er verkündet ihm, dass er ihn einschmelzen werde wie andere auch, um eine neue Person aus ihm zu formen, da er im Leben nie er selbst gewesen sei. Durch Alibis versucht Peer erfolglos zu beweisen, dass das nicht stimmt. Da kommt ihm die edelmütige, tugendhafte Solveig zu Hilfe, die all die Jahre treu und geduldig auf ihn gewartet hat, und rettet ihn.

Wir alle sinds
Gemäss der eigens zum Theaterstück publizierten Broschüre sind wir alle Peer und Solveig, «von denen wir alle einen Anteil in uns haben». Es liegt an jedem Menschen, zu entdecken, wer er ist und sich selbst sinnvoll vernünftig zu verwirklichen. Aus diesem Grund werden die Rollen von Peer und Solveig von allen Schauspielern gespielt, gemeinsam oder sukzessiv, und Solveigs Name wurde in den Titel des Stücks aufgenommen. Dies nun erschwert dem Publikum, der Story zu folgen. Das sei weiter nicht schlimm, betonte Matthias Rüttimann in der Einführung, man müsse nicht alles verstehen, da es bei dieser Inszenierung mehr um das Thema der Identitätssuche als um das ausführliche Erzählen der Geschichte gehe. Die Masken und Puppen, deren sich die Schauspieler mal bedienen und mal nicht, tragen in geradezu faszinierend verwirrender Weise dazu bei, das Spiel mit den Rollen zu unterstreichen. Es kommt schon mal vor, dass weder das Publikum noch die Schauspieler wirklich wissen, wer wer ist – ganz wiederum nach dem Motto der Trolle, dass alles zwei Seiten habe!

Beeindruckende Leistung
Nach den Worten von Rüttimann war es eine anspruchsvolle Aufgabe, ein fünfaktiges, vierstündiges Drama so zu bearbeiten, dass es als Theaterstück von drei Akten und 90 Minuten auf die Bühne passt. Dies ist der Theatergruppe unter der Regie von Matthias Rüttimann und Erika Schnidrig beeindruckend gut gelungen. Mithilfe von Improvisationen aller Mitwirkenden wurde ein attraktives und humorvolles Szenario auf die Beine gestellt.

Die jungen Nachwuchsschauspielerinnen und -schauspieler des Gymnasiums überzeugten durch Ausdruckskraft, Sprache und Lebendigkeit, ihre Ausstrahlung und Freude am Spiel waren schlicht ansteckend. Man kann nur erahnen, wie viele Stunden Arbeit und Proben dahinterstecken.

Timon Liechti, ein begnadeter Komponist, Musiker und Sänger, schrieb die unter die Haut gehenden Begleitsongs und präsentierte sie am Klavier. In einzelnen Szenen waren die wunderbaren Melodien aus der Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg zu hören, virtuos auf der Geige gespielt von Erika Schnidrig.

Das einfache Bühnenbild mit Schrank, Stehleiter und Klavier, durch eine clevere Ausleuchtung in Szene gesetzt, wurde durch die allgegenwärtigen ausdrucksstarken Puppen und Masken unheimlich lebendig. Dies ist die norwegische Märchen- und Feenwelt, die Ibsen einst derart inspiriert hatte.

Auch die Zuschauer/innen sahen sich durch eine originelle Live-Badboy-Umfrage und durch aufgeworfene Probleme der heutigen Zeit in Frage gestellt – Instagram und App und Co. hatten ebenso ihren ominösen Auftritt wie ein Zalando-Päckli. Das über 100-köpfige Publikum hat die tolle Leistung mit einem donnernden und lang anhaltenden Schlussapplaus zu schätzen gewusst.


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