Tres Soles feiert Jubiläum

  10.05.2019 Leserbeitrag

Aus aktuellem Anlass unterbreche ich meinen Bericht über das Kinder- und Jugendprojekt Tres Soles, da wir erst kürzlich 30 Jahre Tres Soles feiern durften. Mit folgendem Text, den ich damals zum 20-jährigen Bestehen verfasste, möchte ich noch einmal auf die Anfänge zurückschauen: Als wir am 1. Februar 1989 mit einer Gruppe von Strassenkindern die Armenküche der katholischen Pfarrgemeinde verliessen, weil sie dort nicht mehr geduldet wurden, schneite es und es war bitterkalt. Wir hatten nichts, ausser dem geliehenen Geld für die ersten Mieten für ein halb verfallenes Haus ohne Fenster und Türen in einem Elendsviertel von El Alto. Guisela, meine heutige Ehefrau, und ich hatten anderthalb Jahre lang als Freiwillige in dieser Armenküche gearbeitet und dort eine Gruppe von Strassenkindern betreut. Letztendlich gab es nur die Alternative, entweder die Kinder dem Jugendamt zu übergeben oder mit ihnen wegzugehen. Wir entschieden uns für Letzteres, da es in den staatlichen Erziehungsheimen sehr unmenschlich zugeht. Es war wie ein Sprung ins kalte Wasser oder wie das Balancieren am Rande eines «schwarzen Lochs», wie ich den Moment in meinem Buch «Die Strassenkinder von Tres Soles» beschrieb.

Zu meinen Aufgaben in der Armenküche gehörte die Übersetzung der Korrespondenz des Pfarrers mit den Spendern, insbesondere mit der Kirchgemeinde St. Konrad in Mannheim, Deutschland. In einem Brief verabschiedete ich mich daher und erklärte die Beweggründe. Die erste Zeit war sehr schwierig, meine Ersparnisse und eine Spende meiner Familie in der Schweiz waren schnell aufgebraucht. Hilfsorganisationen lehnten eine Unterstützung mit der Begründung ab, dass wir für ein Projekt zu «klein», dass kein «Arbeitsplan», kein «Budget» und keine «Fachkräfte» vorhanden seien.

Ein Wunder
Als wir schon aufgeben wollten, geschah ein Wunder. Ein Wunder, das uns die Arbeit bis zum heutigen Tag fortführen liess und vielen Strassenkindern ermöglichen sollte, ein würdiges Leben zu führen, in die Schule zu gehen und einen Beruf zu erlernen. Ein Wunder, das mir den Glauben an Gott zurückgab.

Das Wunder kam in Form eines Briefs. Damals schrieb man sich noch Briefe, die in einem Umschlag, beklebt mit hübschen Briefmarken, über die Post verschickt wurden und oftmals mehrere Wochen oder sogar Monate unterwegs waren. Manchmal gingen sie auch verloren. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn genau dieser Brief verloren gegangen wäre. Wenn er irgendwo in einem Verteilerzentrum in einen falschen Sack geraten oder auf den Boden gefallen und liegengeblieben wäre. Vom Regen aufgeweicht und unleserlich geworden und dann in einer Mülltonne entsorgt. Der Brief ist jedoch zum Glück in einem kleinen Postfach in der bolivianischen Hauptstadt La Paz angekommen. Der Innenhof eines alten Hauses aus der Kolonialzeit, notdürftig überdacht, fungierte als Schalterhalle. Ich drängte und quetschte mich durch die Menschenmenge, öffnete das Postfach und entnahm den Brief. Absender war die katholische Kirchgemeinde St. Konrad. Ich steckte den Brief in meine Tasche und setzte mich in ein Café. Erst nach dem ersten bedächtigen Schluck Kaffee öffnete ich ihn. Beim Überfliegen des Briefs wollte mir schwarz vor Augen werden. Gut, dass ich sass. Die Kirchgemeinde St. Konrad liess mich wissen, dass sie unser Projekt unterstützen werde. Obwohl oder gerade weil ich sie nie um Unterstützung gebeten hatte. Obwohl oder gerade weil mich die Menschen dort, selbst der Pfarrer, nicht persönlich kannten. Obwohl oder gerade weil unsere Wohngemeinschaft kein kirchliches Projekt war, Arbeitsplan und Budget fehlten und die Arbeit mit den Strassenkindern ein grosses Risiko war.

Wie ich später erfuhr, hatten vor allem bei Pfarrer Hermann menschliche Gründe den Ausschlag gegeben. Als ich den Brief wieder in den Umschlag steckte, wusste ich, dass die Wohngemeinschaft eine Zukunft haben würde, was immer jetzt auch mit dem Brief geschah (bei einem unserer späteren Umzüge ist er dann auch tatsächlich verloren gegangen). Bald darauf erhielt ich von der Freundin eines Schweizer Diplomaten, Monika Frehner in St. Gallen, die Nachricht, dass sie die Miete des Hauses übernähme. Sie, genau wie die Kirchgemeinde St. Konrad, unterstützt uns bis heute.

Nie haben sie uns Bedingungen gestellt oder von uns verlangt zu missionieren. Nie haben sie uns misstraut – auch nicht, als ich inhaftiert wurde. Am 1. Februar 2009 haben wir unser zwanzigjähriges Bestehen mit einer «Dankesmesse» im Hof von Tres Soles gefeiert. Wir haben niemanden eingeladen, weder bekannte Persönlichkeiten noch das Jugendamt. Unser einziger Dank gilt Gott und den Menschen, die uns in den zwanzig Jahren unterstützt und das Wunder möglich gemacht haben!

Anlässlich unseres Jubiläums wurde u.a. nachfolgender Text verfasst: «Eine ‹Überlebens›-Geschichte, so unglaublich, wie sie nur das Leben selbst schreiben kann! Sie sind Abschaum der Gesellschaft, zerrissen und zerlumpt, abstossend, vielfach gewalttätig, sie können die Worte Missbrauch, Gewalt, Demütigung, Vergewaltigung weder lesen noch schreiben, aber es sind erlebte Worte, entwürdigend, Worte voller Schmerz – physisch wie psychisch – und manch einer ist nicht älter als zehn Jahre. Geschundene Kinderseelen – chancenlos gegen das Leben. In Abfallhalden und Müllbergen suchen sie nach Essen – streunende Hunde, streunende Kinder. Gibt es einen Unterschied? Instinktiv spüren diese Kinder und Jugendlichen jedoch, dass er ihnen helfen kann. Er ist ein Weisser, ein Freiwilliger aus der Schweiz, ein angehender Literaturstudent, Stefan Gurtner heisst er, und trotzdem setzen sie all ihre Hoffnungen auf ihn und bitten ihn, zu bleiben. Mittellos, in einem Land, das politisch und gesellschaftlich zerrissen ist, beginnt er, unter für uns Mitteleuropäern unvorstellbaren Umständen, einen Kampf für diese Kinder, der nie enden soll. Er tauscht ein Literaturstudium und eine sichere Zukunft gegen immerwährende Ungewissheit und Anfeindungen von allen Seiten ein. Eine schier aussichtslose Idee, deren Scheitern von vorneherein festzustehen scheint. Nicht jedoch für Stefan Gurtner. Mithilfe der Unterstützung einer Handvoll Menschen gründet er die Wohngemeinschaft Tres Soles. Der von den Kindern selbst gewählte Name steht für die Hoffnung und die Gewissheit, ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches, gewaltloses Leben führen zu können. Das Pädagogische Theater ist Teil seines alternativen und erfolgreichen Erziehungskonzepts. Seine bolivianische Frau Guisela, Mitbegründerin und engagierte Mitstreiterin, muss immer wieder intervenieren, wenn die Existenz von Tres Soles auf dem Prüfstand steht. Menschenwürde zurückzuerlangen, der viel diskutierten Opfer-/Täterrolle zu entkommen, das ist fraglos ein wichtiger Ansatz. Funktionieren kann es letztendlich nur, wenn diese unbestreitbar wichtigen Ziele eingebettet werden in die Realität und die dort herrschenden politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Nur dann ist eine solche Arbeit nicht zum Scheitern verurteilt – und das ist Stefan Gurtner und seiner Frau vorbildlich gelungen! Es ist eine Geschichte ‹wie aus einem Buch›, tatsächlich ist sie in seinen Büchern zu lesen – spannend, anrührend, berührend – und überaus lehrreich und heilsam!»

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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