Unterwegs mit 30 indischen Kinderärzten

  31.05.2019 Tourismus

Bollywood-Filme sind aus europäischer Sicht oft eine Spur zu romantisch. Auf einer Bollywood-Tour geht es jedoch gar nicht kitschig zu und her. Wieso junge Inder/innen jede Woche ins Kino gehen und meistens nur wenige Tage in der Schweiz bleiben können.

SARA TRAILOVIC
«Ich war schon letztes Jahr drei Tage in der Schweiz, das hat aber nur für Interlaken und Luzern gereicht», sagt ein etwa 40-jähriger Inder. «Würde es sich nicht lohnen, nur einmal, dafür länger nach Europa zu fliegen?», frage ich nach. «Klar würde es das, aber wir arbeiten zu Hause sieben Tage die Woche, ohne Ferien.» Wir gehen der Promenade entlang. «Es ist für uns sehr ungewöhnlich, dass die Geschäfte hier so früh schliessen», sagt der Familienvater. Ich verstünde das, antworte ich, doch man gewöhne sich daran. Er denkt kurz nach, dann: «Ist wahrscheinlich besser für die Work-Life-Balance. Ich bewundere die Schweizer. Sie arbeiten weniger Stunden und doch kommt am Ende mehr Gewinn heraus als in anderen Ländern.» Ich lache – stimmt, so habe ich das noch nie betrachtet. Auch mir liegt schon lange etwas auf der Zunge: «Für uns ist es nicht komplett nachvollziehbar, was die Inder an den Bollywood-Filmen so fasziniert.» – «Wissen Sie, wir lieben die romantischen Storys. Vielleicht sind wir emotionaler als Sie. Wenn wir uns so einen Film anschauen, fühlen wir uns als Teil davon. Deshalb ist das Happy End auch so wichtig.» Ich verstehe – einigermassen.

Offen, intellektuell und interessiert sind die Menschen, welche ich um 10 Uhr morgens auf dem Carparkplatz antreffe. Dort werden die 104 indischen Gäste von den Guides Gstaad-Saanenland empfangen. Ich muss einige Male nachhaken, bis mir jemand klar sagt, unter welchen Bedingungen sie angereist sind: «Grundsätzlich sind wir auf einer fünftägigen Geschäftsreise. Wir sind alles Kinderärzte», erklärt ein Gast. Sie seien von einem Gesundheitskonzern mit Sitz in der Schweiz eingeladen worden. «Während zwei Tagen haben wir das Firmenareal und Forschungszentrum besichtigt.» Danach besuchte die Grossgruppe Montreux, Luzern und das Jungfraujoch – innerhalb von zwei Tagen, versteht sich. «Wir gehen heute noch auf den Glacier 3000», verrät mir der Gast mit leuchtenden Augen, «und dann wieder nach Hause.» Anita Roth weist die rund hundert Inder und Inderinnen bestimmt, aber freundlich in drei Gruppen ein. Sie ist mitunter verantwortlich dafür, dass heute solche Rundgänge angeboten werden. «Normalerweise umfassen die indischen Reisegruppen 30 bis 50 Personen. In wenigen Wochen bereisen sie per Bus ganz Europa.» Nur sehr wohlhabende Inder/innen könnten sich Individualtouren leisten, erklärt sie mir. Dann schliesse ich mich der von Claudia von Siebenthal geführten Truppe an. «This way» – hier entlang, ruft sie.

Die Tour beginnt auf dem Parkplatz gegenüber vom Ciné-Theater Gstaad. Claudia von Siebenthal wird bereits mit Fragen gelöchert, bevor die Tour offiziell beginnt. «Nein, Roger Federer ist nicht in Gstaad aufgewachsen. Ja, viele bekannte Persönlichkeiten besitzen hier ein Haus», antwortet sie gelassen. Dann setzt sich der Tross in Bewegung. Einmal die Promenade hinunter bis zum Dorfplatz und wieder zurück. Eine kurze Strecke, doch an Attraktionen fehlt es nicht. Vor dem Early Beck rollt die Führerin von Guides Gstaad-Saanenland ein wichtiges Thema auf. Über 200 Szenen von Bollywood-Filmen seien im «Tal von Gstaad» gedreht worden. Die politische Situation der Gemeinde Saanen zu erklären, würde die meisten Gäste wohl verwirren – Gstaad ist der Name, den die Gäste in die Welt hinaustragen werden.

Vor der Eisbahn in Gstaad bestaunen wir den goldenen Tennisball. «Als Roger Federer 2004 das Swiss Open Turnier gewann, bekam er als Preis eine Kuh. Doch was macht ein Tennisstar mit einer Kuh?», fragt Claudia von Siebenthal suggestiv in die Runde. «Seither bekommt er jedes Jahr zweimal ein Paket mit Käse.» Die Teilnehmenden lachen. Die Tourführerin spricht weiter, über das Beachturnier, das Menuhin Festival und die Skigebiete. «Hat Roger Federer hier ein Haus?» – «Nein, aber er hat auf diesem Platz Tennis gespielt.» – «Ist er hier geboren?» Dass Federer nicht aus Gstaad stammt, wollen die indischen Gäste bis zum Schluss nicht wirklich wahrhaben.

Nach einer Stunde intensiver Promandenbesichtigung gibt es einen Szenenwechsel im wahrsten Sinne des Wortes. «Wir fahren jetzt fünf Minuten ins nächste Dorf zur berühmten Saanen-Bridge», tönt die Stimme der Reiseleiterin durch den Reisecar. Neben uns steht ein schwarzer BMW, darin sitzt eine indische Familie. Einige Männer spähen interessiert aus dem Carfenster. «Die haben ein Auto gemietet, um die ganze Region abzufahren», erklärt mir einer von ihnen, ein wenig Eifersucht schwingt in seiner Stimme mit.

Stosszeit auf der Dorfbrücke in Saanen. Alle 104 Touristen/innen wuseln freudig um den Bahnhof herum. Ein Drittel des indischen Kultfilms «Dilwale Dulhania Le Jayenge» ist hier gedreht worden, weiss Claudia von Siebenthal, darunter auch die bekannte Abschiedsszene auf der Brücke. «Die Besichtigung ist immer etwas problematisch. Die Einheimischen stören sich an der erschwerten Durchfahrt und die Gäste müssen für ein Foto am bedeutenden Ort mehrere Anläufe nehmen.» Der Gruppenleiterin liegt es am Herzen, dass die neue Brücke, welche in der Planung steht, breiter werde. «Am besten mit einem separaten Streifen für Fussgänger. Das wäre auch für unsere Schulkinder sicherer.» Zwei junge Inderinnen posieren vor dem Zaun des Flugplatzes. Ich frage nach: «Kennen Sie die Szene, die hier gefilmt wurde?» – «Nein, der Hintergrund gefällt uns einfach sehr.» Die beiden erklären mir, dass die junge Bevölkerung nicht mehr wirklich auf die Bollywood-Klassiker steht. «Wir präferieren Filme mit realistischen Handlungen.» Deshalb sei «DDLJ» auch nicht ihr Lieblingsfilm, gesteht die junge Frau. Die Filmindustrie sei jedoch für junge Inder und Inderinnen immer noch sehr wichtig. «Wir gehen jede Woche ins Kino, weil täglich neue Filme rauskommen. Es ist fast wie Serien schauen, nur eben nicht auf Netflix.»

«Wie schreibt man ‹Gstaad›?» Ich kritzle das Wort auf meinen Notizblock. «Und ‹Fondue›?» Als ich selbstverständlich auch «Raclette» buchstabiere, bemerke ich, dass dieses Gericht den jungen Männern unbekannt ist. Ich starte einen Erklärungsversuch: «Es ist ähnlich wie Fondue, in der Mitte vom Tisch steht ein Ofen. Aber jeder muss den Käse in einer eigenen kleinen Schaufel schmelzen lassen und dann über Kartoffeln und Mini-Maiskolben giessen.» Ich sinniere, wie seltsam das für die Touristen wohl tönen mag, komme aber nicht dazu, länger über unsere Nationalspeisen zu philosophieren. «Wem gehört dieses Haus?», fragt mich ein junger Arzt und zeigt auf das «Brunnehuus». Ein anderer: «War die Schweiz am Zweiten Weltkrieg beteiligt?» Ich gebe nach bestem Wissen und Gewissen Antwort. Meine Gesprächspartner scheinen zufrieden – Glück gehabt.


BOLLY WOOD-TOUREN

Seit vier Jahren bietet Guides Gstaad-Saanenland in Zusammenarbeit mit Gstaad-Saanenland Tourismus auf Anfrage eintägige Bollywood-Rundgänge an. Dabei werden die Gäste zu Drehorten wie dem Flugplatz in Saanen, dem Stausee in Rossinière, der Promenade Gstaad oder auch dem Lauenensee geführt. Dabei erfahren sie von den Guides spannende Hintergrundinformationen. Im vergangenen Jahr haben 485 Personen eine solche Tour absolviert, fast 100 mehr als 2017. Hauptverantwortliche für die Bollywood-Touren und Leiterin der eigenständige Vermittlungsstelle Guides Gstaad-Saanenland ist Anita Roth.

 

 

 

 

 


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