Fünf schwere Koffer, aber kein Trinkgeld!

  18.06.2019 Saanen, Kultur, Event, Schönried

Der Lehrer, Entwicklungshelfer, Taxifahrer, Arzt und Autor Dr. Walter Raaflaub präsentierte sein neustes Buch. In seinem insgesamt zwölften Werk erzählt er in 28 Episoden seine Taxigeschichten aus der Sicht eines Chauffeurs aus Gstaad, der die Schönen und Reichen auf Umwegen ans Ziel brachte.

KEREM S. MAURER
«Dieses Buch möchte Sie eigentlich bloss unterhalten – mit überwiegend amüsanten Erlebnissen und Geschichten aus meiner Zeit als Taxifahrer.» So beginnt Walter Raaflaub sein Vorwort seines Buches mit dem Titel «Taxigeschichten – Auf Umwegen ans Ziel», das er in diesem Buch «Vorfahrt» nennt. Alle Episoden spielen in einer Zeit, als die Bauern ihre Milch noch mit Pferden in die Molki brachten, als die meisten Fotos noch schwarz-weiss waren und es im Taxi weder GPS noch Handys gab, sondern nur ein Funkgerät. Trotzdem habe er seine Zielorte immer gefunden, sei es in Paris, Lissabon, Monte Carlo, aber auch in Genf, Zürich oder Gstaad. Als Taxifahrer ging Raaflaub immer wieder kürzere, manchmal auch längere Wege zusammen mit fremden Menschen. Menschen, die er von seinem Fahrersitz aus im Rückspiegel wachsam studierte. «Glauben sie sich nämlich unbeobachtet, zeigen sie noch am ehesten ihr wahres Gesicht, das ihrem Innern am nächsten kommt. Und darum ging es mir: doch endlich dahinterzukommen, ob ich verkehrt im Leben stehe und mir bei der Suche nach Unabhängigkeit bloss etwas vorspiele. Ob ich der Gescheiterte sei, oder ob die anderen von einem Tag zum nächsten lebten, als wäre das Leben ein immerwährender Maskenball.» In seinen eineinhalb Jahren als vollamtlicher Taxifahrer in Gstaad chauffierte er viele illustre Gäste und machte mit ihnen oft für sich selbst wegweisende Erfahrungen. So ist dieses Buch letztlich auch eine Reise zu sich selbst. Mit manchmal scharfzüngigem Humor und spitzer Feder, ironisch, tiefsinnig und mit unterhaltsamer Beobachtungsgabe schildert Raaflaub seine Erlebnisse, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen und gewährt uns einen spannenden, zuweilen nicht immer ganz ernst zu nehmenden Blick durch den Rückspiegel in eine Welt, zu der die wenigsten von uns Zugang haben.

Von Geiz und Dekadenz
Walter Raaflaub las einige Abschnitte aus seinen Taxigeschichten vor. Zum Beispiel von einer Kundin, die ihm für seine Fahrt hinauf ins Palace nur zehn, statt zwölf Franken bezahlen wollte, und wie er durch entschlossenes, unkonventionelles Handeln doch noch zum vollen Betrag kam. Oder wie ein anderer Gast, der mit fünf schweren Koffern anreiste, ihm nicht einmal Trinkgeld gab. Einmal habe ihn einer der reichsten Männer seiner Zeit aufgefordert, einen Reifen zu wechseln. Im Anschluss daran habe dieser ihm, dem Chauffeur und Reifenwechsler, eine zerknüllte Fünfzigernote hingeworfen. «Wie einem Hund den Knochen», entrüstete sich Raaflaub, hob die Note auf und schleuderte sie dem Absender zurück vor die Füsse. Obschon er damals – knapp bei Kasse – das Geld weiss Gott gut hätte gebrauchen können. Nicht ohne gewisse Genugtuung in seiner Stimme las Raaflaub das Ende dieser Geschichte vor, wonach der reiche Mann einige Jahre später erst wegen Betruges im Gefängnis landete und danach verarmt verstarb. Der Autor blickt mit gutem Gewissen auf diese Geschichte zurück, schliesslich habe er ihm das Geld noch zur rechten Zeit wieder zurückgegeben. In einer anderen Geschichte verlangte eine Kundin von ihm, er solle oberhalb des Parkhotels aus dem Dorf hinausfahren, alle Lichter löschen und ihr einen Kuss geben. Die Episoden in Raaflaubs neustem Werk sind Geschichten aus dem Leben, die das Leben schrieb und das Leben irgendwie doch nie so schreiben würde. Sie lassen die Lesenden staunen, lächeln oder auch die Stirne runzeln. Bei manchen denkt man: Ja, gibt es denn so was? Ja, da war einmal ein kleiner, flinker Mann, der unter dem Vordach seines Chalets einen Punchingball montiert hatte. Als Raaflaub dort klingelte, kam der Mann heraus, er trug Turnschuhe, ein offenes Hemd und Boxhandschuhe. Plötzlich habe dieser angefangen, wie wild auf den Punchingball einzuschlagen, herumzuhüpfen, wobei er sich mit eigenen Rufen selbst anfeuerte. Schliesslich forderte er den Taxifahrer auf, mitzumachen. Es endete damit, dass «ein Taxifahrer in Zipfelmütze, Windjacke und Winterstiefeln morgens um halb zwei sich mit dem kleinen, flinken Mann um einen Punchingball balgt».

Notizbuch und Wasserpistole
Dr. Markus Iseli, stellvertretender Verlagsleiter der Müller Medien AG Gstaad, des Herausgebers von Raaflaubs Buch, fragte den Autor am Podiumsgespräch anlässlich der Buchvernissage vom letzten Donnerstagabend in Saanen, wie er sich all diese Geschichten über eine so lange Zeit in seinem Kopf habe bewahren können. Raaflaub offenbarte, er habe immer zwei Dinge in seinem Taxi mitgeführt. Eines sei eine Wasserpistole – gefüllt mit verdünntem Haarshampoo – gewesen, um etwaige Aggressoren durch einen «Sprutz» in die Augen von ihren fiesen Vorhaben abzuhalten. Und das zweite sei ein Notizbuch gewesen. «Wenn einem schöne Gedanken durch den Kopf gehen und man schreibt diese nicht auf, gehen sie vielleicht verloren!», ist Raaflaub überzeugt und nennt Notizenmachen ein Grundbedürfnis. Denn Notizen hielten fest, was gerade wichtig sei. Sie würden helfen, die Welt zu verstehen und manchmal entstünden daraus sogar Kurzgeschichten. Lesenswerte Episoden wie diese in seinem neuen Buch, gespickt mit Wörtern aus dem Saanendeutsch. Nein, lacht Raaflaub, das sei nicht zwingend ein literarisches Stilmittel, sondern eher, weil ihm sein literarischer Schnabel so gewachsen sei!


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