«Es macht mir grossen Spass, mein Wissen an Lernende und Studierende weiterzugeben»

  12.07.2019 Interview, Region

Die Schönriederin Irene Eggenberg ist für die Auszubildenden von Alterswohnen STS AG zuständig. Sie sagt im Interview, dass sie sich von der Politik mehr Unterstützung wünscht, um gegen den Fachkräftemangel anzukämpfen.

BLANCA BURRI

Sie sind in Bern geboren und aufgewachsen. Was hat Sie ins Saanenland geführt?
Das ist eine lustige Geschichte. Ich habe meinen Mann als 16-Jährige am Swiss Open in Gstaad kennengelernt, wo wir beide als Platzanweiser halfen. Nach der Ausbildung bin ich noch ein Jahr in Bern geblieben und nach einem längeren Auslandaufenthalt schliesslich für eine Saisonstelle ins damalige Spital Saanen gekommen. Das ist inzwischen 21 Jahre her.

Das Spital Saanen schloss seine Türen im Herbst 2012 für immer. Blieben Sie bis zum Schluss dort?
Ich blieb bis zum Schluss an Bord, hatte aber eine etwas spezielle Stelle. Ich zeichnete für die Bildung verantwortlich und für die Entwicklung der Pflegequalität. Zusätzlich habe ich das Zentrallager und die Apotheke so umorganisiert, dass es vom Mutterhaus in Thun bewirtschaftet werden konnte. Ich habe quasi einen Teil meiner eigenen Stelle wegrationalisiert, das war mir aber bewusst.

Wie können wir uns den Schliessungsprozess vorstellen?
Mit allen Mitarbeitern wurden Gespräche über mögliche künftige Arbeitsstellen geführt. Ich erhielt bereits während dem Schliessungsprozess die Chance, mit 60 Stellenprozenten in der Lehrund Lernwerkstatt und den LTT Praxis in Thun einzusteigen.

Seither pendeln Sie täglich nach Thun?
Die letzten zehn Jahre ja. Jedoch habe ich mich die letzten paar Jahre auch noch um die Lernenden der Pflege am Spital Zweisimmen gekümmert. Vor drei Jahren reduzierte ich die Stellenprozente in Thun und übernahm zusätzlich eine Teilzeitstelle im Spital Zweisimmen.

Und aktuell?
Seit letztem Februar bin ich bei der Alterswohnen STS AG mit den Standorten Zweisimmen, Saanen und Steffisburg sowie dem Mandatsbetrieb in Lauenen tätig. Wiederum stehen die Lernenden im Zentrum. Die Geschäftsstelle befindet sich in Zweisimmen, ich gehe aber auch in die Betriebe, zum Beispiel wenn ich den Kompetenznachweis der Lernenden abnehme. Zusätzlich arbeite ich 10 Prozent im Spital Zweisimmen, wo ich die Lernenden bei der Pflege am Bett betreue.

Der Pflegeberuf ist ein Frauenberuf. Wie steht es mit dem «Zickenalarm»?
Den gibt es immer mal wieder und hängt sehr von den Teamleitern ab. Aber natürlich ist er nicht wegzudiskutieren und gehört wohl ein bisschen zu uns Frauen. Sobald ein Mann mit im Team ist, verändert sich der Teamgeist.

Was unterscheidet die Kommunikation von Männern und Frauen?
Die Männer sagen einander ihre Ansichten ziemlich direkt und gehen anschliessend gemeinsam ein Bier trinken. Frauen sind nachtragender.

Ihr Mann ist in der Reisebranche tätig. Haben Sie daran gedacht, in seinem Geschäft einzusteigen?
Das war nie ein Thema. Wir ergänzen uns und harmonieren extrem gut. Ich glaube aber nicht, dass es gewinnbringend wäre, wenn wir zusammenarbeiten würden.

Sie sind seit Jahren für die Ausbildung von Lernenden verantwortlich. Macht das Spass?
Den Kontakt zu den jungen Leuten finde ich sehr schön. Ich finde den Pflegeberuf nach wie vor sehr schön, deshalb macht es auch grossen Spass, mein Wissen an Lernende und Studierende weiterzugeben. Das macht mich richtig glücklich.

Weshalb liegt Ihnen soviel daran?
Ich finde einen guten Start ins Berufsleben extrem wichtig. Die Lebensphase, wenn die Jugendlichen aus der Schule kommen und in die Berufswelt einsteigen, ist nicht einfach. Sie beginnen, sich vom Elternhaus zu lösen. Deshalb versuche ich Vorbild zu sein und Strukturen für eine zielorientierte Ausbildung zu schaffen. Gute Ausbildungsplätze sind wichtig, weil Pflegeberufe anspruchsvoll sind. Die Bewohner und Patienten brauchen jemanden, der zuhört und sie begleitet. Das muss der Lernende selbst machen, die Berufsbildner unterstützen sie in diesem Prozess. Deshalb ist auch ein intaktes Verhältnis mit den Familien wichtig, wo sie über das Erlebte reden können.

Welche Anforderungen muss man erfüllen, um eine der raren Lehrstellen im Pflegebereich zu ergattern?
Die Jugendlichen müssen teamfähig sein, einen guten empathischen Umgang mit Menschen sowie Interesse an den Kernfächern Anatomie, Medizinaltechnik etc. haben. Weil man dort viel lernen muss, sind gewisse kognitive Voraussetzungen unabdingbar. Seit der letzten Reform 2017 müssen die Auszubildenden ihre praktische Arbeit schriftlich reflektieren, was eine gute Sprachkompetenz voraussetzt. Wir schauen genau hin, welche Ausbildungsstufe für jeden Einzelnen die richtige ist.

Wie sind die Jugendlichen heute?
Es gibt sehr viele tolle junge Menschen, die etwas lernen wollen und mit Begeisterung auf die Berufswelt zugehen. Wir stellen aber auch fest, dass manchen Jugendlichen zu Hause der rote Teppich ausgerollt wird. Die Eltern lassen ihnen die Wahlmöglichkeit zwischen A, B oder C. Im Betrieb gibt es das nicht. Die Jugendlichen erhalten klare Anweisungen, die es zu erfüllen gilt. Der Führungsstil ist direktiv, daran müssen sie sich erst gewöhnen. Ein zweiter Aspekt: Zu Hause werden Hindernisse oft aus dem Weg geräumt, deshalb haben die Jugendlichen nicht gelernt, wie sie mit Schwierigkeiten umgehen und wie sie Lösungen finden. Sie können weniger lang durchbeissen.

Was können Jugendliche besser als früher?
Im Umgang mit elektronischen Geräten sind sie sehr geübt. Das ist aber auch eine Krux. Sie müssen lernen, mit der ständigen Erreichbarkeit umzugehen. Sie sollten zwischendurch spüren, dass es ihnen gut tut, ab und zu offline zu sein. Durch die ständige Erreichbarkeit erholen sie sich weniger.

Haben Jugendliche manchmal falsche Vorstellungen vom Beruf?
Die Altersstruktur der Patienten im Spital schätzen sie falsch ein. Sie denken, dass die Patienten dort jünger sind als im Langzeitbereich, was aber nicht stimmt, denn die Gebrechen kommen im Alter. Lustigerweise gelingt es ihnen oft besser, mit älteren Leuten in Kontakt zu treten und sie zu pflegen als mit jüngeren.

Empathie ist in Pflegeberufen Voraussetzung, trotzdem sollte man sich auch abgrenzen können. Wie lernt man das?
Ich kann bestätigen, dass Jugendlichen gewisse Situationen sehr nah gehen. Zum Beispiel, wenn ein Langzeitpatient oder Bewohner während der Frei- und Berufsschultage stirbt. Besonders schlimm ist es, wenn ein Bett nach einer mehrtätigen Abwesenheit plötzlich leer oder bereits wieder frisch belegt ist. Oftmals hat das Team den Vorfall verarbeitet. Das ergibt schwierige Situationen. Wir unterstützen die Lernenden in diesem Prozess, indem wir miteinander besprechen, was sie erlebt haben.

Geht das nur Pflegenden so?
Nein, auch andere Berufsgruppen haben einen direkten Bezug zu Patienten und Bewohnern. Zum Beispiel die Hauswirtschaft. Man darf sie bei der Trauerarbeit nicht vergessen.

Wann sprechen Sie mit den Jugendlichen darüber?
Immer wenn es nötig ist. Es gibt aber auch ein offizielles Gefäss, ein Forum für Lernende, an dem die Vorgesetzten den Lernenden einmal pro Jahr den Puls fühlen. Die Jugendlichen lernen, dass Gefühle wichtig und richtig sind, dass man mit den Bewohnern aber kein Mitleid haben darf. Ebenfalls lernen sie, ihre Sorgen im Betrieb zu lassen und nicht nach Hause zu bringen. Sie entwickeln verschiedene Strategien dazu.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Wenn eine Lernende nach einem ereignisreichen Tag um 16 Uhr nach Hause kommt, würde sie ihrer Mutter gerne erzählen, was sie erlebt hat. Diese ist aber noch bei der Arbeit, also entscheidet sich das Mädchen für Plan B: Sie schnürt die Joggingschuhe und geht laufen, um Dampf abzulassen.

Wie nah gehen Ihnen die Sorgen und Ängste der Lernenden?
Das ist ähnlich wie mit den Bewohnern. Es ist mir wichtig, ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen und sie zu unterstützen. Ich überlege mir auch, wo sie sich Unterstützung holen können. Eine individuelle Betreuung und somit auch Lösungsansätze gehen vor. Trotzdem versuche ich, Abstand zu wahren. Schwieriger wird es, wenn Lernende vom Unterland Heimweh bekommen, dagegen gibt es kein Heilmittel.

Was hat sich in den letzten 20 Jahren im Anforderungsprofil verändert?
Vieles! Es gab früher zum Beispiel nur zwei Ausbildungsstufen: diplomierte Pflegefachfrau und Pflegehilfen. Heute gibt es mit Fachfrau/Fachmann Gesundheit eine Zwischenstufe. Zudem ist die ganze Digitalisierung enorm fortgeschritten. Während meiner Ausbildung haben wir alle Kurven noch von Hand aufgezeichnet … Auch die Aufenthaltsdauer der Patienten ist viel kürzer geworden.

Wie lange bleibt ein Blinddarmpatient heute im Spital?
Nach der OP nur etwa einen Tag lang. Früher blieb er sechs bis sieben Tage. Das sind komplett andere Voraussetzungen, auch für das Pflegefachpersonal. Früher pflegten wir die Patienten, heute beraten wir sie, wie sie sich zu Hause pflegen und auf welche Symptome sie achten müssen, damit es keine bösen Überraschungen gibt.

Das heisst, im Spital gibt es heute nur noch Akutpatienten?
Früher gab es ein Gemisch von unterschiedlich pflegebedürftigen Menschen, heute müssen die meisten akut behandelt werden. Deshalb gibt es viel mehr zu tun. Auch in den Pflegeheimen ist der Aufwand gestiegen, weil die Menschen beim Eintritt älter und pflegebedürftiger sind als früher, dadurch steigt der Zeitdruck.

Konnten Sie dieses Jahr alle Ausbildungsplätze besetzen?
In den Randregionen ist es schwieriger geworden. Eine Lehrstelle in der Hauswirtschaft im Maison Claudine Perreira beispielsweie konnten wir nicht besetzen, das erstaunt mich eigentlich.

Auf was führen Sie es zurück?
Im Moment sind die Jahrgänge der Schulabgänger recht klein. Zudem gibt es viele Jugendliche, die keine klassische Lehre mehr absolvieren, sondern den Weg über die weiterführende Mittelschule wählen. Das finde ich sehr schade, weil sie während der schulischen Laufbahn einseitig gefordert werden. Bei uns müssen sie die Berufsschule, die Arbeitswelt sowie die überbetrieblichen Kurse in Einklang bringen. Sie lernen die Ansprüche der Berufswelt bereits sehr früh kennen und nicht erst, wenn sie bereits älter sind. Sie übernehmen viel mehr Verantwortung.

Es gibt einen grossen Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Kennen Sie Lösungsansätze?
Einerseits sind die Betriebe gefordert, die Anstellungsbedingungen entsprechend an das Fachpersonal anzupassen. Was brauchen Frauen, damit sie nach einer Baby-Pause oder nach der Familienzeit wieder zurück in ihren angestammten Beruf gehen? Ein Appell geht an die Betriebe. Sie müssen gute Ausbildungsplätze bereitstellen, damit sie nicht den Verleider bekommen. Zudem finde ich, dass die gesellschaftliche Anerkennung in der Langzeitpflege recht tief ist. Schade, denn diese Arbeit ist höchst anspruchsvoll.

Was macht den Beruf so anspruchsvoll?
Man baut mit den Bewohnern und Patienten eine Beziehung auf und unterstützt sie in der Pflege, psychisch und sozial auf ihrem Weg. Dieser tägliche Kontakt zu den Menschen hat mich damals bewogen, die Lehre zu beginnen.

Ihr grösster Wunsch an die Politik?
Dass die Fachpersonen Gesundheit, welche die Ausbildung zur Pflegefachperson HF absolvieren, finanziell unterstützt werden. Für Junge und Wiedereinsteiger sind die Kosten einfach zu hoch. Auch die betriebsinterne Unterstützung prüfen wir bei uns. Das Problem ist einfach, dass die Auszubildenden während der dreijährigen Ausbildung sehr wenig im Betrieb sind, weil sie entweder in der Schule weilen oder ein obligatorisches auswärtiges Praktikum absolvieren.

Wie gehen Sie mit der unsicheren Situation der Gesundheitsversorgung Obersimmental-Saanenland um?
Ich finde, es braucht ein gut definiertes Angebot im Akutbereich. Der Campus, der im Moment im Gespräch ist – er vereint viele verschiedene Gesundheitsanbieter –, ist zukunftsweisend. Ich denke an die älteren Menschen, wenn sie notfallmässig ins Spital müssen. Es ist für die Angehörigen einfacher, sie in Zweisimmen zu besuchen und zu unterstützen als in Thun oder Bern. Bei kranken Menschen ist Unterstützung durch die Familien für den Heilungsprozess oft sehr wichtig.

Wie können Sie abschalten?
Beim Sport, Schwimmen, Joggen, Langlaufen und Lesen oder auch beim Kochen.

Wenn Sie als 20-Jährige auf den heutigen Erfahrungen aufbauen könnten, was würden Sie anders machen?
Eigentlich nichts. Ich würde es immer noch genau gleich machen. Was mir aber aufgefallen ist, dass alle Abschlüsse, die ich gemacht habe, kurze Zeit später durch eine modernere Ausbildung ersetzt wurden. Das war etwas demotivierend. Das hat mich zum Erwerb des Bachelor of Science in Nursing bewogen, den ich vor zwei Jahren abgeschlossen habe.

Haben Sie alle Ausbildungen berufsbegleitende absolviert?
Ja, obwohl ich bis letzten Februar immer 100 Prozent angestellt war. Heute bin ich noch zu 90 Prozent beschäftigt, das geniesse ich.

Was gibt Ihnen die Arbeit zurück?
Der Beruf gibt mir sehr viel zurück. Weil ich dazu beitrage, dass Lernende sich entwickeln und zu kompetenten Berufsleuten werden, geht es auch mir gut. Auch das gute Arbeitsklima im Team und Spässe mit den Patienten und Bewohnern freuen mich. Ich habe das Gefühl, dass diese Arbeit sinnvoll ist, sie erfüllt mich sehr.


ZUR PERSON

Jahrgang: 1974
Wohnort: Schönried
Geburtsort: Bern
Zivilstand: verheiratet mit Patrick Eggenberg
Ausbildung: Krankenschwester AKP (heute Pflegefachfrau), diverse Weiterbildungen, höchste Ausbildung: Bachelor in Nursing Science. Irene Eggenberg gewichtet den Abschluss zur diplomierte Pfelgeexpertin aber höher.
Hobbys: Kochen und Backen, Schwimmen, Langlauf, Joggen, Tauchen und Lesen


PILOTPROJEKT IN ZWEISIMMEN

Die Lernenden Fachfrau/Fachmann Gesundheit werden seit zwei Jahren in zwei Bereichen ausgebildet: Langzeitpflege und Akutpflege. Alterswohnen Bergsonne und Spital Zweisimmen stellen pro Jahrgang je zwei Lernende ein. Das erste Jahr arbeiten sie im Stammbetrieb, das zweite absolvieren sie im Partnerbetrieb und das dritte Lehrjahr wiederum im Stammbetrieb. Somit lernen sie den Umgang mit Langzeitbewohnern ebenso wie die Akutpflege im Spital kennen. Das bedeutet für die Ausbildungsbetriebe wie für die Jugendlichen eine gewisse Herausforderung: Schnittstellen müssen geklärt werden, Ansprechpersonen wechseln und die beiden Betriebe haben unterschiedliche Rahmenbedingungen. Das Pilotprojekt wird vom Kanton gelobt.

Ausbildungsberufe im Alterswohnen: Fachfrau/Fachmann Gesundheit EFZ, Praktikumsplatz für Fachfrau/ Fachmann Gesundheit HF, Assistent/ in Soziales und Gesundheit (EBA), Vorlehre Gesundheit & Soziales, Fachperson Hauswirtschaft EFZ, Praktiker/in Hauswirtschaft EBA, Koch EFZ, Fachleute Betriebsunterhalt EFZ, Kaufmännische Lehre.


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