«Für uns als Festivalveranstalter bleibt die Frage eines künftigen Konzerthauses aktuell»

  16.07.2019 Event, Interview, Kultur, Gstaad, Saanenland

Nächsten Donnerstag eröffnet die Camerata Bern mit Polina Leschenko und Patricia Kopatchinskaja in der Kirche Saanen die 63. Ausgabe des Gstaad Menuhin Festival & Academy. Bis zum 6. September wird im Saanenland und seiner Nachbarschaft zum diesjährigen Thema «Paris» musiziert. Der künstlerische Leiter Christoph Müller erzählt im Interview, wie er auf die jeweiligen Festivalthemen kommt und erläutert, wie wichtig eine Nachfolgelösung für das alternde Festivalzelt ist. Zudem gibt er einen Ausblick auf seine Zukunftspläne für das Gstaad Menuhin Festival & Academy.

INTERVIEW: ÇETIN KÖKSAL

Letztes Jahr «die Alpen» – heuer «Paris». Wie entstehen eigentlich die Themen für das Festival?
Ich habe immer etwa 20 verschiedene Themen auf der Notizfunktion meines Handys und auf Post-it-Klebern an meinem Kühlschrank, welche ich fortlaufend überdenke und überarbeite. Es ist ein längerfristiger Prozess, in dessen Verlauf sich allmählich das nächste Festivalthema herauskristallisiert. Selbstverständlich schaue ich jeweils darauf, dass sich das neue Thema ausreichend vom vergangenen unterscheidet. Paris steht doch in schönem Kontrast zu den Alpen!

Mit «Paris» wollen Sie unter anderem einen Beitrag zur Überwindung des sprachlichen und kulturellen Röstigrabens leisten. Was meinen Sie damit genau?
Ich bin ja jetzt schon einige Jahre im Musikbusiness tätig, und dabei ist mir aufgefallen, wie unbekannt viele fantastische französische Komponisten im deutschsprachigen Raum sind. Dasselbe gilt übrigens auch für hervorragende Interpreten oder Ensembles. Oftmals werden diese in Frankreich als Stars gefeiert, und hier kennt man sie kaum. Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Programmierungstraditionen von Veranstaltern, Festivals und Orchestern im deutschund französischsprachigen Kulturraum. Mit «Paris» möchte ich eine Brücke bauen und die beiden Welten verbinden und dem Publikum einen vertieften Einblick in die französische Musikkultur gewähren – gerade auch, weil wir uns hier im Saanenland an der Sprachgrenze befinden.

Hat die Stadt Paris für Sie persönlich eine besondere Bedeutung?
Mit dem Kammerorchester Basel sind wir öfters für Konzerte an der Seine, und manchmal besuche ich den befreundeten Pianisten Bertrand Chamayou – diesjähriger Artist in Residence – in Paris. Einen anderen Bezug zur französischen Hauptstadt habe ich momentan aber nicht. Zu den musikalischen Erzeugnissen, welche diese Stadt im Lauf der Zeit hervorgebracht hat, jedoch umso mehr. Ich finde die Musik von Saint-Saëns, Bizet, Franck, Berlioz, Ravel, Debussy magisch, berührend und faszinierend … sie zeichnen Universen von Gefühlswelten auf. Schon an meiner Abschlussprüfung zum Konzertcellisten spielte ich vor vielen Jahren mit dem Bieler Sinfonieorchester als Solist ein Cellokonzert von Camille Saint-Saëns … das lässt mich nicht mehr los.

Manfred Honeck übernimmt dieses Jahr die Leitung des Gstaad Festival Orchestra und der Gstaad Conducting Academy. Nächstes Jahr wird wahrscheinlich wieder Jaap van Zweden übernehmen. Weshalb diese Wechsel?
Vielfalt tut einem Projekt wie der Gstaad Conducting Academy gut … Ich möchte die Abhängigkeit von einer Dirigentenpersönlichkeit verringern, zumal Jaap van Zweden seit letztem Jahr Chef der New York Philharmoniker ist und einen enorm gedrängten Terminkalender hat. Mit Manfred Honeck haben wir eine weitere erfahrene und hochkarätige Dirigentenpersönlichkeit verpflichten können, welche als Chef vom Pittsburgh Symphony und ständiger Gast so renommierter Orchester wie der Berliner Philharmoniker, der Staatskapelle Dresden oder des Concertgebouw Amsterdam grosse Erfahrung mitbringt. Für das Orchester, die Studenten und das Publikum wird dies bestimmt eine interessante Bereicherung, da die beiden Maestros im Charakter und in der Arbeitsweise sehr unterschiedlich sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass die beiden in Zukunft die Projekte alternierend leiten werden.

Erstmals werden dieses Jahr zwei Festivalkonzerte an der Lenk veranstaltet. Letztes Jahr kam die Kirche Boltigen dazu. Ist eine weitere Ausdehnung der Konzertorte geplant?
Wenn es uns gelingt, auf wundersame Weise ein paar weitere Seitentäler mit so schönen Kirchen zu entdecken, dann ja, auf jeden Fall (lacht). Nein, im Ernst, ich denke, dass wir das Nachbarschaftspotenzial mit Château-d’Oex, Rougemont, Lenk, Vers-l’Eglise, Gsteig, Lauenen, Zweisimmen und Boltigen weitgehend ausgeschöpft haben. Wir sehen uns auch ein Stück weit als Dienstleistungsbetrieb, welcher der ganzen Region professionell organisierte und hochkarätige klassische Konzerte anbietet, und es freut uns, wenn dies von immer mehr Gemeinden geschätzt und angenommen wird.

Apropos Konzertorte: Andermatt eröffnete vor kurzem mit den Berliner Philharmoni- kern seinen neuen Konzertsaal. Wie sehr fehlt dem Gstaad Menuhin Festival & Academy ein solches Aufführungsgebäude?
Es fehlt uns nicht, aber ein festes Konzertgebäude hat gegenüber einem Konzertzelt – wie es das unserige ist – zweifellos Vorteile hinsichtlich Akustik, Ästhetik, Temperaturregulierung usw., obwohl unser Zelt mittlerweile sehr hohen Ansprüchen genügt … Für uns als Festivalveranstalter bleibt die Frage eines künftigen Konzerthauses aktuell und spannend, aber die Bedingungen müssen natürlich auch stimmen. Vergessen Sie nicht: Herzstück unserer künftigen Festivalausgaben bleiben auch in Zukunft die Kirchen im Saanenland mit der Kirche Saanen als Zentrum und Hauptaufführungsort; nahezu 65 Prozent des jetzigen Ticketvolumens generieren wir durch die Kirchenkonzerte.

Wie sieht Ihre Zukunftsvision für das Gstaad Menuhin Festival & Academy aus?
Ich sehe ein Wachstumspotenzial bei den Sinfonie- und Opernprojekten, wenn denn die richtige Infrastruktur zur Verfügung stünde. Zum anderen dürfen wir nicht vergessen, dass unsere jüngst eingeführten Projekte Conducting Academy (Meisterkurse für Dirigenten), Discovery (Angebote für Kinder und Jugendliche) und Gstaad Digital Festival (Livestreams, Konzerte und Backstage-Clips) noch in ihren Frühphasen stehen. Sie verlangen weiterhin viel innovative Ideen und Energie, um sie zu konsolidieren und zu festigen. Da müssen wir voll dranbleiben.

Gibt es noch Projekte, die Sie als musikalischer Leiter der Gstaad Menuhin Festival & Academy unbedingt umsetzen möchten?
Ich träume davon, eine Chor-Academy aufzubauen. Doch leider scheitert dies im Moment aus Kapazitätsgründen, sowohl was die Infrastruktur und die Manpower betrifft. Unsere Administration ist ausgelastet. Singen ist die ursprünglichste Art Musik zu machen, und wer bereits einmal in einem Chor mitsingen durfte, weiss um die befreiende und zugleich beseelende Wirkung des gemeinsamen Singens. Wäre es nicht fantastisch, wenn das Festival auch da eine hochkarätige Weiterbildung anbieten könnte? Chöre bewegen die Massen und setzen viele Emotionen frei. Vielleicht kommt ja der Moment, wo wir unsere Academy um dieses Element erweitern können. Unser Amateurorchester-Projekt «play@menuhinfestival» zeigt beispielhaft, wie erfolgreich solche Ansätze wirken können. Ich sehe ein Potenzial, unsere «Erfindung» der Gstaad Conducting Academy zu exportieren, beispielsweise nach New York oder Schanghai – dieser Ansatz der Dirigentenschmiede ist beispiellos weltweit und es könnte für renommierte Institutionen in Musikzentren weltweit spannend sein, ihn zu übernehmen – das Projekt wäre ein exzellenter Botschafter der Marke unseres Festivals und von Gstaad.

Was entgegnen Sie kritischen Stimmen, die sich über die jährlich immer wiederkehrenden Starkünstler beschweren?
Es gibt gute Gründe, warum wir einen Stamm von vielleicht 10 bis 15 Künstlern haben, die regelmässig bei uns auftreten. Wir haben mit ihnen über die Jahre eine Publikumsbindung entwickelt. Diese Künstlerpersönlichkeiten sind fantastische Musiker und faszinieren mich. Zudem binden sie einen grossen Teil des Publikums, welches wir wiederum brauchen, um unsere Einnahmen sicherzustellen. Ich kann es mir schlicht nicht leisten, am Publikumsgeschmack vorbei Konzertprogramme zusammenzustellen. Erstaunlicherweise haben es manchmal sogar Weltstars bei uns schwerer, beim ersten Mal sofort ein grosses Publikum zu finden. Die Kritik, wir würden immer wieder dieselben Künstler engagieren, greift auch mit Blick aufs ganze Programm nicht: Jedes Jahr präsentieren wir zahlreiche Jungstars und alleine dieses Jahr gastieren Weltstars wie Yuja Wang, Hilary Hahn, Patricia Petibon, Klaus Florian Vogt oder Jungstardirigenten wie Lahav Shani, Mikko Franck oder Omer Wellber das erste Mal in Gstaad. Andererseits bilden die Wiederbegegnungen mit Patricia Kopatchinskaja, Sol Gabetta, Khatia Buniatishvili, András Schiff, Maurice Steger, Fazily Say und den fünf Menuhin Heritage Artists sehr wichtige Pfeiler unserer Planung.

Vermutlich gab es noch nie so viele Festivals der klassischen Musik wie heute. Worin unterscheidet sich das Gstaad Menuhin Festival & Academy von seinen Mitbewerbern?
Die Verbindung von Musik und Natur. Das ist der unverwechselbare «USP» unseres Angebots. Der Rest liegt in unseren Händen, es so gut wie möglich und besser als die anderen zu machen. Die Einmaligkeit der Räume, ihrer Ästhetik und Akustik sind ein grosses Plus. Diesem mit einem hochkarätigen Angebot gerecht zu werden, ist mein Anspruch. Die mit dem Gstaad Festival Orchestra erarbeiteten Eigenproduktionen heben uns von reinen Konzertveranstaltern ab und werden immer wichtiger, auch in der internationalen Wahrnehmung. Künstlerische Prozesse finden aber ebenso in den Amateurorchestern, bei den Kinderveranstaltungen und bei den Academies statt. Dieses Gesamtpaket macht uns ziemlich besonders – wie ich finde. Das Festival lebt mittlerweile innen und aussen!

Seit 18 Jahren verbringen Sie nun den Festivalsommer im Saanenland. Was empfinden Sie für unsere Region?
Ich schätze die familiäre Atmosphäre hier im Saanenland mindestens so sehr wie die unbestritten schöne Landschaft. Ich fühle mich immer so, als würde ich zu einem Teil «nach Hause» kommen. Ich liebe die Berge, und es ist für mich immer wieder eine grosse Freude, fast acht Wochen am Stück hier verbringen zu können, umgeben von Musikern, einem tollen Team und Helfern, mitten in der atemberaubenden Bergwelt. Als Ausgleich zur Arbeit bewege ich mich, wann immer möglich, zu Fuss, joggend oder mit dem Velo in der Natur.

Gibt es Lieblingsorte, die Sie besonders gerne besuchen?
Ich wandere sehr gerne vom Lauenensee zum Geltenschuss und dann über den Chüetungel wieder zurück zum Lauenensee. Mit dem Velo zieht es mich öfters in den Turbach, wo ich mich anschliessend auf den Hornberg «quäle», um dann mit einer entspannten Talfahrt über Schönried nach Gstaad belohnt zu werden. Einmal pro Jahr tue ich mir auch den Trüttlisberg-Pass mit dem Velo an, aber der ist knallhart!


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