«I am nobody»

  19.07.2019 Saanen

Im Beisein der Organisatoren wurde am Samstagnachmittag im Museum der Landschaft Saanen die Sonderausstellung über Jiddu Krishnamurti eröffnet, der von 1961 bis 1985 jeden Sommer vor einem bunten Publikum aus der ganzen Welt Vorträge im grossen Zelt im Oeyetli hielt. Die Ausstellung gibt spannende Einblicke in das Werk, Gedankengut und Leben des grossen spirituellen Lehrers.

MARTIN GURTNER-DUPERREX
Vor vielen Jahren stand jeden Sommer ein grosses Zelt auf dem Oeyetli zwischen Saanen und Gstaad … Velos standen und lagen massenweise herum. Hunderte, in der Mehrheit junge Menschen aus aller Welt, Hippies und orangegewandete buddhistische Mönche sassen gedrängt zu Füssen des weisshaarigen Inders – eines Gurus? – und hörten ihm gebannt zu. Viele Saanerinnen und Saaner erinnern sich vage an Krishnamurtis sommerliche «Gatherings» zuerst beim Flugplatz und später im Oeyetli. Vollgestopfte Züge, zertrampelte Matten, Leute, die wild am Saane-Ufer und in Scheunen campierten und andere, die gar Erdbeeren aus dem Garten stahlen … Aber fast niemand weiss wohl mehr so recht, wer Jiddu Krishnamurti wirklich war, was er bedeutete und lehrte. Mehr als 30 Jahre nach seinem Tod erinnert sich nun das Saanenland dieser Tage wieder an die aussergewöhnliche, etwas geheimnisumwobene Persönlichkeit: Das Museum der Landschaft Saanen hat letzten Samstagnachmittag eine Sonderausstellung zu Krishnamurtis Werk und Leben eröffnet. An der Vernissage dabei waren die massgeblichen Organisatoren der Ausstellung.

Das Unermessliche
Museumspräsident Stephan Jaggi bedauerte in seinen Einführungsworten, seinerzeit nie einen Vortrag von Krishnamurti besucht zu haben, erinnerte sich aber mit Wohlwollen an die jungen Amerikanerinnen, die jeweils bei seiner Mutter ein Zimmer mieteten. Er unterstrich den wirtschaftlichen Nutzen, den die Vorträge von Krishnamurti für die Region hatte, denn viele Leute konnten so während dem Sommer Zimmer vermieten.

«Krishnamurti war nicht einfach zu lesen und zu verstehen», warnte Jürgen Brandt gleich zu Beginn seines Referats, und gab davon gleich eine Kostprobe. Ausser der Suche nach dem Unermesslichen sei für Krishnamurti alles nebensächlich gewesen. Wenn die Menschen es verfehlten, sich diesem Unermesslichen zu öffnen, bleibe ihr Leben begrenzt. «Es ist nicht etwas Unerreichbares, das nur ganz wenige erlangen können», sagte er. Die Wahrheit werde einem aber nicht durch Denken oder Anstrengung offenbart, sondern in der Stille.

Der «Sternorden»
Wie Jürgen Brandt und Javier Gomez Rodriguez von der J.K.-Stiftung im anschliessenden Gespräch erklärten, ist Krishnamurti als kleiner Junge, ein 1895 geborener Halbwaise aus einer brahmanischen Familie, von Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft in Indien aufgrund seiner Aura auserwählt worden, um als «Weltlehrer» des «Sternordens» einer neuen Weltreligion den Weg zu bereiten. Der Name Krishnamurti bedeutet «Wiedergeburt des Krishna», nach einer indischen Gottheit, den der achtgeborene Knabe einer Familie traditionellerweise in Indien erhält. Nach dem frühen Tod seines Bruders, dem ebenfalls eine führende Rolle prophezeit worden sei, habe sich Krishnamurti von seinen okkulten Meistern distanziert und 1929 den Orden aufgelöst. Vorausgegangen sei eine tiefere, innere Wandlung, die sich über Jahre hingezogen hatte, und die ihn erkennen liess, dass die «Wahrheit ein pfadloser Weg» sei, so Brandt.

Der Anti-Guru
Laut Gomez Rodriguez hatte der Bruch mit der Sekte eine Kehrtwendung in Krishnamurtis Denkweise zur Folge. Von nun an betrachtete er sich als spiritueller Lehrer, nicht als Messias, und nannte sich nur noch K. In den Memoiren von Friedrich Grohe, seinem persönlichen Freund und Mäzen, sagt K von sich selbst: «I am nobody» – also «ich bin niemand». Er hat nicht die Person als wichtig betrachtet, sondern das, was sie sprach. «Erstaunlicher- und unerklärlicherweise hielten trotzdem viele Theosophen zu ihm und folgten ihm nach», erklärte Gomez Rodriguez weiter. Dies sei wohl die Basis und die Erklärung zu seinem enormen internationalen Erfolg gewesen. In der Folge gründete er mithilfe seiner zahlreichen Anhängerschaft gemeinnützige Stiftungen und Schulen in Indien, Grossbritannien und England und reiste mit seinen Vorträgen um die Welt. Saanen wurde von 1961 bis 1985 zu einem wichtigen Lehrort, wo K jeden Sommer sprach, weil er die Berge, Wiesen und Täler liebte.

Die Lehre, die keine war
K stand für die geistige Freiheit ein, die es jedem Menschen erlaubt, selbst ohne Vermittler zur Wahrheit zu finden. Er stellte sich vehement gegen jede Form von Organisation, Religion, Sektiererei und Guruismus. Dass Gott eine Erfindung des menschlichen Verstandes und Nationalismus sowie Religionen eine Ursache für Unfrieden und die Teilung der Welt seien, sind Aspekte seiner Weltanschauung. «Der Kern seiner Lehre jedoch ist die für alle Menschen erreichbare Qualität einer tiefen und ungeteilten Achtsamkeit jenseits des Denkens», unterstrich Jürgen Brandt. Die Schautafeln, Fotos und Videos der Ausstellung erlauben eine Vertiefung seines Gedankengutes und helfen, es besser zu verstehen.

Mit seinem Charisma und seiner freiheitlichen Lehre zog Krishnamurti Tausende in seinen Bann: Achtundsechziger, Hippies, Pazifisten, Anti-Vietnam-Aktivisten, New-Age-Vertreter … Den Buddhisten, die ihn als lebenden Buddha verehrten, soll er entgegnet haben: «Wenn ihr auf Buddha gehört hättet, bräuchtet ihr keinen Buddhismus.» Vielleicht wurde er gerade dadurch, dass seine Lehre keine Lehre sein sollte, wiederum zum Guru, der er nie sein wollte.

Die Ausstellung «J. Krishnamurti in Saanen 1961–1985» ist bis zum 22. September, von Dienstag bis Sonntag, 14 bis 17 Uhr geöffnet.


DIE KRISHNAMURTI-STIFTUNGEN

Es gibt fünf Stiftungen und rund dreissig Komitees in verschiedenen Ländern der Welt, welche die Lehre Krishnamurtis bewahren und vermitteln. Den Stiftungen gehören Schulen, Studienzentren und Archive an. Sie produzieren Bulletins, Bücher, Audio- und Videoaufnahmen in zahlreichen Sprachen. Die Komitees helfen ihnen dabei. Krishnamurti-Schulen existieren in Indien, Grossbritannien und den USA und haben neben der Vermittlung des akademischen Lehrstoffs vor allem die freie persönliche Entfaltung der Studierenden zum Ziel.


DIE THEOSOPHISCHE

Die Theosophische Gesellschaft wurde 1875 vom Medium Petrovna Blavatsky in New York mitbegründet. Die Sekte vertrat die pantheistische Ansicht, dass Gott in der Welt sei – nicht über der Welt – und mithilfe okkulter Kräfte unmittelbar erfahren werden könne. Sie hatte zum Ziel, alle Religionen in einer Bruderschaft zu vereinigen, und zwar ohne Unterschied von Herkunft, Glaube, Geschlecht und Hautfarbe. Über Logen organisiert, verbreitete sie sich Anfang des 20. Jahrhunderts über die ganze Welt. Ihre Präsidentin Annie Besant, die Adoptivmutter von Krishnamurti, war in der frühen Frauenbewegung sowie in der Bewegung für die Unabhängigkeit Indiens engagiert. Im deutschsprachigen Raum wurde vor allem Rudolf Steiner bekannt, der später seine eigene Anthroposophische Gesellschaft sowie Schulen gründete. Krishnamurti verliess die Gesellschaft 1933 und sollte weitere 52 Jahre allein vor Menschen aus aller Welt sprechen.


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