Die Backstube

  02.07.2019 Leserbeitrag

Nachdem ich in den letzten beiden Artikeln Rückschau auf unser langjähriges Bestehen gehalten habe, knüpfe ich nun wieder an die vorherigen Themen an, nämlich unsere Werkstätten.

Seit der Gründung von Tres Soles war und ist die Backstube ein fester Bestandteil der Aktivitäten der Wohngemeinschaft. In der ersten Zeit unserer Wohngemeinschaft in El Alto hatten wir einen Backofen, der mit Holz geheizt wurde, da die Strom- und Gasversorgung sehr prekär war und ständig ausfiel. Dieser Ofen war eine Kuppel aus Backsteinen mit einem Türchen. Das Holz, Reste aus der Schreinerei oder aber Reisig von den T’ola-Sträuchern, die auf dem Altiplano wachsen und die man gebündelt auf dem Markt kaufen konnte, wurden innerhalb dieser Kuppel aufgeschichtet und angezündet. Wenn der Ofen heiss war, wurde die Asche mit Haken herausgeschabt und die Bleche mit den Brötchen hineingeschoben. So wird das Brot noch heute auf dem Land gebacken, wo es in weiten Teilen keinen Strom gibt. Von Anfang an war unser Ziel, dass alles, was in der Wohngemeinschaft selbst hergestellt werden kann, auch selbst hergestellt werden sollte, also auch das Brot. Die Jugendlichen sollten vernünftig beschäftigt werden und die Möglichkeit haben, sich etwas Taschengeld hinzuzuverdienen. Dabei wurden wir immer wieder abwechselnd von zwei Seiten kritisiert. Auf beiden Seiten waren es «Superidealisten», die mit den Beinen nicht wirklich auf dem Boden der Realität standen. Sie beschäftigten sich mit pädagogischen Theorien, ohne sie je in der Praxis umgesetzt zu haben. Meistens handelte es sich um Funktionäre von Hilfsorganisationen oder um Beamte vom Jugendamt: «Mit diesen Werkstätten fördert ihr die Kinderarbeit», mussten wir uns wieder und wieder anhören, während die anderen die idealistische Einstellung beschworen: «Alles muss im Dienst der Gemeinschaft, des Kollektivs, unentgeltlich gemacht werden.» Die Kinderarbeit ist in Bolivien tatsächlich ein grosses Problem, wie ich immer und immer wieder betonen muss, ein Problem, das bisher auch von der sozialistischen Regierung nicht gelöst werden konnte. Solange die Mindestlöhne der Eltern nicht ausreichen, um ihre Familien zu ernähren, wird es Kinderarbeit geben, auch wenn sie tausend Mal verboten wird. Wenn, wie in unserem Fall, Jugendliche über 13oder 14-jährig eine bis zwei Stunden täglich handwerklich arbeiten und ausreichend Zeit haben, um in die Schule zu gehen sowie ihre Hausaufgaben zu machen, kann man das gewiss nicht als «Kinderarbeit» bezeichnen.

In der Zielsetzung, die die Jugendlichen für die Backstube erarbeitet und auf eine Tafel geschrieben haben, steht denn auch: «Wir backen unser eigenes Brot, weil wir uns gesund ernähren und für die Zukunft etwas lernen wollen, das hilfreich für uns ist.»

Sie wissen natürlich, dass das Brot, das man auf dem Markt oder in den Läden kaufen kann, oft nicht mit hochwertigen Zutaten hergestellt wird, nicht das vorgeschriebene Gewicht hat und auch nicht so frisch ist wie bei uns. «Der Teig von Tres Soles besteht aus Mehl von guter Qualität, Milch, Käse und Sesam», erklären die stolzen Bäckerinnen und Bäcker. Nur mit dem Vollkornmehl hapert es. Es ist nicht immer erhältlich und manchmal wehren sich auch die Kinder und Jugendlichen der Wohngemeinschaft dagegen, weil ihnen Weissbrot besser schmeckt. Dabei wissen sie genau, dass Weissbrot nur «füllt» und «verstopft», darüber haben wir oft genug gesprochen. «Unser Brot wird hygienisch hergestellt», fährt Mery, eine der Bäckerinnen, die diese Woche in der Backstube als eine von zwei Jugendlichen Schicht machen muss, lehrmeisterlich fort und fährt mit einem Lappen demonstrativ über den Arbeitstisch. «Die Sauberkeit ist sehr wichtig, da wir Darminfektionen verhindern wollen.»

Die Backstube ist eine der Werkstätten, an der alle, Mädchen wie Jungen, teilnehmen müssen. Schliesslich essen nun einmal auch alle von dem Brot. Den Gedanken, Brot zu backen oder an anderen ähnlichen Aktivitäten für die Wohngemeinschaft teilzunehmen, ohne Taschengeld zu bekommen, hält Mery für abwegig: «Immerhin müsste die Wohngemeinschaft das Brot, wenn wir es nicht backen würden, woanders kaufen und dafür bezahlen. Ausserdem wollen wir uns auch mal was kaufen können.»

Der bereits von mir erwähnte Anton Makarenko, der kurz nach der russischen Revolution ein sowjetisches Erziehungsmodell aufbauen sollte und dies ganz ähnlich sah, wurde von einem Inspektor der Volkserziehungsbehörde dafür kritisiert, dass er seinen Zöglingen Taschengeld zahle: «Scheint es Ihnen nicht auch, dass Sie den inneren Stimulus durch einen äusseren ersetzen, und zwar durch einen äusserst materiellen?» – «Und doch ist die Bezahlung der Arbeitsleistung eine sehr wichtige Sache», antwortete Makarenko. «Durch den Arbeitslohn, den der Zögling erhält, lernt er die persönlichen Interessen mit den Interessen der Gemeinschaft zu koordinieren und kommt dadurch in Berührung mit dem Prinzip der wirtschaftlichen Rechnungsführung und der Rentabilität. Schliesslich lernt er den Arbeitslohn schätzen und verlässt das Kinderheim nicht als obdachloses Pensionsfräulein, das fürs Leben nicht gerüstet ist und nur Ideale besitzt.»

Tatsächlich hat die Geschichte gezeigt, dass sogar in der Sowjetunion, wo das «Kollektiv» über allem stand, der «materielle Stimulus» nicht durch einen «inneren Stimulus» zu ersetzen war. Ich habe bereits in einem der letzten Artikel erwähnt, dass der Mensch ein Gleichgewicht zwischen Gemeinschaftssinn und persönlichem Selbstnutz benötigt, um sich kreativ und produktiv erfolgreich betätigen zu können. Vom Idealismus allein lebt der Mensch nicht und vom Brot allein auch nicht, das haben schon gescheitere Leute vor mir herausgefunden. In diesem Sinn wurde versucht, das Brot der Backstube nicht nur an die Wohngemeinschaft zu verkaufen, sondern auch an einige Läden der Nachbarschaft. Allerdings dauerte es einige Zeit, bis die Brötchen das nötige Aussehen hatten, denn um verkauft zu werden, mussten sie nicht nur gut sein, sondern auch schön aussehen. Die Backstube musste modernisiert und mit einem vernünftigen Backofen und einigen anderen Maschinen ausgestattet werden. Eine Lehrkraft wurde eingestellt, um die Jugendlichen entsprechend anzulernen. Die Backstube ist bis heute, wie alle Werkstätten von Tres Soles, eine selbstverwaltete und sich selbst tragende Werkstatt, das heisst, die Jugendlichen verkaufen gemeinsam mit ihrer Ausbildnerin ihre Produkte frei und unabhängig, führen ihre eigene Kasse, haben eine eigene Buchhaltung, zahlen das Taschengeld aus und kaufen das benötigte Material.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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