Chorgesang in Vollendung

  23.08.2019 Kultur

Der britische Kammerchor «Tenebrae» lieferte in der Kirche Zweisimmen unter der Leitung von Nigel Short ein Konzert aus der Rubrik «Weltklasse». Das Programm umfasste eine Gegenüberstellung französischer Werke über eine Zeitspanne von acht Jahrhunderten hinweg, von der Notre-Dame-Schule um 1200 bis zu Francis Poulenc um 1940.

KLAUS BURKHALTER
Wie richtig war doch der Konzerttitel mit «Le chant du c(h)oeur», denn diese Chormusik kam wirklich von Herzen und liess ebenso wohl kein Herz des grossen Publikums unberührt. Der künstlerische Leiter von «Tenebrae» ist Nigel Short, bei uns wohlbekannt als ehemaliges Mitglied der legendären King’s Singers, der sich 2001 mit der Gründung dieses Chores seinen lang gehegten Traum erfüllte, den raumfüllenden Klang grosser Chöre mit der Präzision und Leidenschaft eines kleinbesetzten Vokalensembles nachzuvollziehen. Und, wie man es in der für seine Vorstellungen bestens geeigneten Kirche von Zweisimmen erleben durfte, wurden Shorts Ideale aufs Schönste umgesetzt.

Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit
Dem diesjährigen Festivalthema «Paris» wurde an diesem Abend ein weiterer Baustein beigefügt, zeigte das klug aufgebaute Programm doch die Bedeutung der französischen Hauptstadt für die Chormusik: Der Magister Perotin gehörte in der Kathedrale Notre-Dame zu den ersten Musikern, welche die gregorianischen Melodien zur einfachen Mehrstimmigkeit erweiterten. Diese bahnbrechende Entwicklung erlebte im 15. Jahrhundert bei Antoine Brumel seine Fortsetzung in den Harmonien mit volltönenden Klängen. Die Neuerungen waren später die perfekte Grundlage für die modernen Chorwerke des 20. Jahrhunderts, im Zweisimmner Konzert eindrücklich dargestellt mit dem Kleinod «O sacrum convivium» von Olivier Messiaen, den vier Motetten über gregorianische Themen von Maurice Duruflé und den herausragenden Gesängen des grossen Meisters Francis Poulenc.

Tief berührt haben dessen aufwühlende Motetten «Pour un temps de pénitence», das innige «Salve Regina» und zum Schluss, als Höhepunkt, die Kantate «Figure humaine», entstanden als Aufschrei nach Freiheit in der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. All diese Komponisten hatten in Paris gewirkt.

Der grandiose «Tenebrae Choir»
Hier waren Solisten am Werk, die sich zu einem absolut homogenen Ensemble zusammenfügten. Sie verschmolzen zu einem einheitlichen, runden Klang und phrasierten wie aus einem Guss. Intonation und Ausgewogenheit der einzelnen Lagen stimmten bis ins Detail. Feinfühlig liessen sich die Vokalisten auf die vom hervorragenden Dirigenten Nigel Short vorgezeichneten Tempo- und Dynamikideen ein und fanden zu beeindruckender Ausdrucksintensität. Keine Stimme trat je hervor, ausser wenn sie einen solistischen Auftrag zu erfüllen hatte. Mit ihrer Präzision, der rhythmischen Gestaltung, den gewaltigen Klanggegensätzen und der Musizierfreude wurde die Zuhörerschaft in den Bann gezogen. Auch wem diese Musik bisher nicht geläufig war, musste sich hier einfach mitreissen lassen. Eine bessere Chorleistung kann man sich kaum vorstellen!

Jedes der aufgeführten Werke erhielt seine besondere Interpretation, entwickelte seinen eigenen Klang. Selbst die Choraufstellung war differenziert gehalten bei den mittelalterlichen- und modernen Gesängen. Grosse Ruhe, erfüllende Sanftheit, Innigkeit und eine berückende Piano-Kultur wechselten sich ab mit gewaltigen Ausbrüchen, Dissonanzen, die sich wieder auflösten, und unglaublichen Forte-Aufschreien, die fast das Kirchendach zu heben schienen. In «Figure humaine» erreichte das Ensemble den total anspruchsvollen Höhepunkt. Diese Kantate gehört zu den eindrücklichsten Werken der Chorliteratur. Die nach Texten von Paul Eluard komponierte Befreiungshymne ist für Doppelchor mit bis zu 14 Einzelstimmen geschrieben und stellt so höchste Anforderungen an die Ausdauer, Gesangstechnik, Sprache und Musikalität der Aufführenden. Der «Tenebrae Choir» meisterte all diese Schwierigkeiten unglaublich packend, begeisternd, mühelos. Der Schlusspunkt mit dem herausgeschrienen «Liberté» tönte dem tief beeindruckten Publikum auf dem Heimweg sicher noch lange in den Ohren.

Die Kirche von Zweisimmen war mit einer Sternstunde des Chorgesangs beschenkt worden.


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