Comeback der Trachten und Melchröcke

  06.08.2019 Lauenen, Tradition

Einheimische und Gäste feierten den 1. August zum Thema Alphorn von morgens bis in die Nacht hinein. Nebst dem beeindruckenden Höhenfeuer und einer spannenden Festrede von Dominik Ziörjen sorgten besonders die verschiedenen Trachten und Melchröcke für Aufsehen.

SARA TRAILOVIC
Der Geruch von Bratwürsten und Wein lag in der Luft, aber auch der von Frühlingsrollen. Auf dem Geltenhornplatz in Lauenen wurden am Nationalfeiertag ursprüngliche Werte aus aktueller Sicht zelebriert. Im Zentrum der Feier stand das Volksinstrument schlechthin. Vier Formationen Alphornbläser/innen erfüllten das Dorf im Verlaufe des Tages mit heimatlichen Klängen. Aber auch eine andere Tradition, die derweilen etwas in Vergessenheit geraten ist, wurde wiederbelebt: das Tragen von festlichen Trachten und Melchröcken.

Trachten betrachten
Nachdem die letzten Alphornklänge unter der Leitung von Tobias König verstummt waren, strömten Frauen und Männer von Jung bis Alt zwischen den Festbänken hindurch auf die Bühne. «21, 22, 23 … 26!», zählte die Präsidentin der GST-Dorforganisation, Susanne Brand, die Leute, welche ihre traditionellen Trachten und Melchröcke aus dem Schrank, Keller oder Estrich geholt hatten. «An der vorjährigen Feier hatten nur eine Handvoll Frauen Trachten an», erinnerte sich Brand. Auf Anregung ihrer Mutter habe sie dieses Jahr ins Programm geschrieben: «Trachten und Melchröcke sind sehr willkommen!» Offensichtlich hatte der Aufruf Anklang gefunden.

«Hinter jeder Tracht und jedem Melchrock steckt eine Geschichte», wusste Brand und ging mit dem Mikrofon durch die Reihe. «Haben Melchröcke eigentlich immer gleich viele Knöpfe?» – «Wenn man lange unterwegs ist», meinte ein Träger, «dann schreisst man schon den einen oder anderen ab.»

Dann wendete sich Brand an die Damen, «die eine schöner als die andere». Die Vielfalt war gross, waren doch nicht nur hiesige, sondern auch Kluften aus dem Nachbarstal oder gar Nachbarsland vertreten. Vier Frauen trugen die historische Tracht aus dem Saanenland, ein mit farbigen Verschnörkelungen besticktes Kleid. Darunter war auch eine 18-Jährige, die am selben Tag noch ihren Jungbürgerbrief erhielt. «Ich habe die Tracht meiner Grossmutter 30 Minuten vorher hervorgesucht und angezogen», erzählte Simona Schwizgebel.

Jede Tracht war auf ihre Weise schön. Die Sommer-Simmentaler-Tracht schimmerte rosa, das österreichische Dirndl entzückte mit einem knalligen Grün und typischem Ausschnitt. Susanne Brand freute sich besonders über die Gotthelf-Sonntagstracht, bei der ein passender Strohhut den Rücken schmückt. Die Präsidentin der Dorforganisation trug ihrerseits eine Saanenländer Predigtstracht, die in den drei Farben Rot, Gold und Blau existiert. Die meisten Frauen trugen aber die Saanenwertungstracht, erkennbar am längs gestreiften Rock.

Das Blatterli erstrahlte
Gestärkt von schmackhaften Speis und Trank schnallten sechs Männer – vier davon in Melchröcken – die schweren Treicheln vom Balken oberhalb der Bühne ab, um sie, gefolgt von den Dorfkindern, die ihre 1.-August-Lampions mit genauso viel Stolz schwenkten, durch die Hauptstrasse zu tragen. Alle Anwesenden folgten dem Fackeliumzug hinauf das Blatterli, einer Waldlichtung oberhalb des Geltenhornplatzes.

Die Jüngsten hatten bereits einen erlebnisreichen Morgen hinter sich. Sie durften baggern, basteln und Kasperlitheater schauen. Gleichzeitig vergnügten sich die Erwachsenen am reichhaltigen Markt. Mittlerweile war es dunkel geworden und die Gäste versammelten sich im Halbkreis um das prächtige Höhenfeuer, dessen Funken dem bewölkten Himmel zu einem Sternenkleid verhalfen. Es wurden fleissig Erinnerungsfotos geschossen, währendem das Feuer die Wangen zum Glühen brachte.

Das Alphorn in der Schweiz
Ein Redner, der seine Ansprache selbst musikalisch umrahmt, das sei eine Premiere in Lauenen, freute sich Susanne Brand. Im goldenen Schein des Höhenfeuers entlockte Dominik Ziörjen seinem Alphorn Töne mit Hühnerhauteffekt. Dann stieg er ans Rednerpult und erzählte die überraschende Geschichte des Alphorns in der Schweiz.

Die ursprüngliche Funktion des Alphorns als Arbeitsinstrument der Hirten ist vielen bekannt. Laut Überlieferungen kam ein Hirte auf die Idee, ein krumm gewachsenes Tännlein zu halbieren, auszuhöhlen und es mit Weidenruten zusammenzuschnüren. Praktisch und leicht diente das kurze Alphorn vor allem dazu, das Vieh in den Stall zu locken, den Alpsegen zu erbitten oder mit den Leuten im Tal zu kommunizieren.

Im 16. Jahrhundert zogen viele Hirten im Winter mit ihren Hörnern in die Stadt, um sich ein paar Groschen zu erbetteln. Zwei Jahrhunderte später fand das «Bettelhorn» als erwünschtes Schweizer Klischee bei den Touristen der Belle Epoque grossen Anklang und spülte den Alpbewohnern etwas Geld in die Taschen.

Doch bevor es zu dieser Renaissance der traditionellen Klänge kam, wurde das Alphorn zusammen mit so manchen, als unsittlich geltenden Volksliedern von der Reformationswelle erfasst und aus weiten Teilen der Schweiz verbannt. Diesen Kulturzerfall wollten die Stadtberner nicht akzeptieren und sie versuchten, dem «Pöbel» in den Bergen die Volksmusik wieder näherzubringen, jedoch ohne grossen Erfolg. Auch das Hirtenfest von 1805 in Interlaken änderte nichts daran, dass sich das Alphorn nur in Kreisen von Gelehrten und Aristokraten als Musikinstrument etablierte. Erst durch die Gründung des Eidgenössischen Jodlerverbands anfangs des 20. Jahrhunderts erlebte das Volksinstrument einen allgemeinen Aufschwung und gewinnt seither stetig an Beliebtheit.

Worte für auf den Weg
«Es passt nie besser als am 1. August, die Jungbürgerbriefe zu überreichen», eröffnete Gemeindepräsident Jörg Trachsel die Jungbürger-Zeremonie auf dem Blatterli. Sechs Lauener/innen (zwei davon abwesend) hatten ihr 18. Altersjahr erreicht und erhielten somit alle bürgerlichen Rechte und Pflichten. Lukas Addor, Simona Schwizgebel, Raymond Turrian und Vanessa Zumbrunnen hörten Trachsel bei seinen mit Bedacht gewählten Worten aufmerksam zu. «Haltet die Traditionen hoch», legte Trachsel den Jugendlichen ans Herz. Das heisse nicht, dass sie nie etwas Neues ausprobieren oder die Welt auskundschaften sollten. «Aber bevor ihr eine Tradition über Bord werft, solltet ihr euch fragen, wieso man das überhaupt so macht. So geht altes Wissen nicht einfach verloren.»

In diesem Sinne hatte sich Susanne Brand zurecht darüber gefreut, dass so viele dem diesjährigen Dresscode gefolgt waren. «Ich hoffe, dass wir nächstes Jahr noch mehr Trachten und Melchröcke sehen werden!»

Weitere Fotos unter: https://tinyurl.com/y236jm32


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote