Der fluchende Buddha

  27.09.2019 Saanen

Jörg Fava wohnt seit zehn Jahren auf dem Campingplatz Saanen – doch das ist nur der Anfang der Geschichte. Vor bald drei Jahren erbaute er ein heiliges Zeltlager mitten im Saaner Wald und wohnt seither fast durchgehend in der Natur. Ein Besuch in seinem «Waldtempel» hinterlässt Spuren.

SARA TRAILOVIC
«Lieber Baumkuschler als Betonknutscher», steht auf dem Facebookprofil von Jörg Fava. Der spirituelle Mann wohnt seit zweieinhalb Jahren im Einklang mit dem Allmiwald in Saanen – ein Lifestyle, wie er im Saanenland nicht alle Tage vorkommt.

Irgendwo im Allmiwald

Ich gehe immer tiefer in den Allmiwald hinein. Sonnenlicht zeichnet sich in hellen Flecken auf den Bäumen und Sträuchern ab und lässt mich vergessen, dass hier, an einem Schattenhang des Saanenlandes, während vier Monaten praktisch kein Lichtstrahl den Boden berührt. Zuerst folge ich einem zweispurigen Forstweg und steige über gefällte Tannen – gut, bis jetzt passt alles zum Wegbeschrieb des Waldbewohners. Ich marschiere weiter durch das üppige Grün – vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Minuten. Dann höre ich plötzlich Hundegebell und kann praktisch gleichzeitig Teile einer Zeltkonstruktionen durch die Blätter hindurch erahnen.

Auch im Winter

Jörg Fava trägt einige Rastas und eine Lederweste, auf der ich knapp noch den Schriftzug «Roots Man» entziffern kann. Er verbringt 90 Prozent des Jahres im Wald, das heisst, auch den Winter. Der wettergegerbte Mann lächelt versonnen bei der Erinnerung an die kalte Jahreszeit. «Wenn du am Morgen bei minus zwanzig Grad und Neuschnee aus dem Zelt schaust, dann ist es mucksmäuschenstill.» Nur bei extremen Wetterlagen weiche er auf seinen offiziellen Wohnsitz, den Camping Saanen beim Kappeli, aus. «Den Standplatz habe ich, damit die Gemeinde weiss, wohin sie die Rechnungen schicken soll», sagt Fava. Belustigung schwingt mit und die Frage, wieso er sich überhaupt noch mit einem Bein in der Gesellschaft halte, beantwortet er folgendermassen: «Ich will nicht aus dem System aussteigen. Ich will beweisen, dass ein einfaches und naturverbundenes Leben innerhalb der Gesellschaft möglich ist.» Viele Leute besuchen ihn, weil sie den Alltag aus einer anderen Perspektive sehen wollen. «Man muss nicht im Wald leben wie ich, um die innere Ruhe und Liebe zu finden.»

«Wie verdienen Sie eigentlich Ihr Geld?», frage ich nach einer Weile. Fava lächelt. «Das ist immer die erste Frage, die ein Schweizer stellt. Und wenn es nicht die erste ist, dann ist es die zweite.» Er nimmt den Gusseisenkrug vom Feuer, wäscht eine silberne Thermostasse zweimal mit dem kochenden Wasser aus und brüht Pulverkaffee auf. «Der ist für dich.» Wir setzen uns auf einen Baumstamm vor dem Eingang seines Koch- und Schlafzelts. Meine Frage bleibt bis auf Weiteres unbeantwortet, stattdessen sagt Fava: «Ich mache der Gesellschaft Angst, weil ich mein Leben nicht über den Erfolg im System definiere, also nicht über Geld und Macht.» Der Waldbewohner spricht schnell und mit lebendiger Mimik. «Wenn du einen Mann, der – wie man so schön sagt – mit beiden Beinen im Leben steht, mit einem Rucksack mitten in den Wald setzt, dann hat er erst einmal einfach …», Fava reisst Augen und Mund weit auf, «… Angst!» Wieso? «Weil sich der Mensch im Normalfall an Dingen wie der Karriere, Familie und einem schönen Haus festkrallt.» Auch die Zeit existiere nur aus diesem Grund, um uns das Gefühl von Halt zu geben. Ein Bedürfnis, welches Fava fremd geworden ist.

«Ich hatte einen Traum»
Aufgewachsen ist der 48-Jährige als Adoptivkind im Kanton Thurgau. «Einfach ist das nicht gewesen, aber zur Weisheit kommt man nur durch Schicksalsschläge.» Die Schule habe ihn dann von vorne bis hinten gelangweilt, obwohl er immer der Klassenbeste gewesen sei. Kaum war die reguläre Schulzeit vorbei, suchte sich der junge Mann seinen eigenen, unabhängigen Weg. «Eine Lehrstelle hätte mich nur gebremst. Ich beherrschte jede Art von Handwerk innert kürzester Zeit.» Und so fand er auch ohne Ausbildung mit 16 Jahren eine Anstellung als Schreiner in einer kleinen Firma. «Ich war ein durchschnittlicher junger ‹Giel›, der Heavy Metal hörte, am Morgen müde zur Arbeit ging und sich aufs Wochenende freute.» Und was passierte dann? «Ich hatte einen Traum», lacht Fava, der sich der Banalität des Satzes wohl bewusst ist. «In meinem Traum kam ein grosser Bär zu mir. Er wirkte vollkommen real, so als würde er hier neben uns stehen. Und dieser Bär erklärte mir die Bedeutung des tibetischen Lebensrads.» Er habe noch nie zuvor von diesem Rad gehört, nicht einmal im Entferntesten. Er sei als anderer Mensch erwacht. Als Fava am Morgen nach dem Traum zur Arbeit ging, strahlte er so voller Glückseligkeit, dass ihn sein Vorgesetzter lachend fragte: «Jörg, was ist los mit dir? Bist du verknallt?» – «Als mein neuer Zustand auch nach einer Woche noch anhielt, musste sich der Chef eingestehen, dass es wohl nicht nur eine Phase war.»

Der junge Mann zog sich daraufhin vermehrt in die Natur zurück. «Mein Ziel wurde es, Hass, Habgier und Angst durch Liebe, Dankbarkeit und Vertrauen zu ersetzen. Und dazu musste ich zuerst leer werden.» Bei mehreren Wanderungen mit seinen Hunden quer durch Europa machte er Halt bei Schamanen, heiligen Feuerstellen und hinduistischen Klöstern und erlernte so spirituelle Rituale. Fava tippt sich an die Schläfe, dann drückt er denselben Finger auf seine Brust. «Nicht denken, nicht sprechen, einfach fühlen.»

Die einzige Erdschwitzhütte der Schweiz
Ich folge Jörg Fava zu den verschiedenen Tempeln, die er in und um sein Zeltlager aufgebaut hat. Jeden Morgen wäscht er sich mit kaltem Flusswasser und spricht Gebete aus. Dasselbe Ritual wiederholt er auch täglich für die Elemente Luft und Erde. Dabei danke er Lady Gaia (schamanische Bezeichnung für Mutter Erde) für alles, was sie ihm zur Verfügung stelle. «Achtung, pass mir auf meinen Farn auf!», ruft er plötzlich. Wie sooft schwingt genauso viel Schalk wie Ernst in seiner Stimme mit. Ich schaue nach unten. Um ein Haar hätte ich einige junge Farnblätter zertrampelt. Doch Fava steht bereits neben einem igluförmigen Erdhügel. «Das ist die einzige schamanische Erdschwitzhütte in der Schweiz», erklärt er mit Stolz in der Stimme. Auf Anfrage führt Fava auch ganztägige Zeremonien mit Gästen durch. «Um zehn Uhr morgens beginnen wir mit einer kurzen Meditation, dann tragen wir Holz zusammen und entzünden ein Feuer, um Steine zu erhitzen, die dann fast rot glühend in die Hütte getragen werden.» Zirka drei Stunden verbringen die Teilnehmenden dann in der warmen Höhle, wo gesungen und gebetet wird. «Wir trommeln für jedes Element und die göttliche Liebe.» Favas Leben ist im Grunde so simpel, dass es fast schon als Provokation aufgefasst werden kann.

Sich selbst zurücknehmen
Fava sitzt vor dem Feuertempel, einem länglichen Anbau seines Schlafzelts, und mischt Milch, Reis und Honig zu einer Art Paste zusammen. Wenig später werde er sich in einen Zustand vollkommener Versunkenheit begeben, erklärt er mir. «Es geht darum, dass ich mich während der Zeremonie komplett zurücknehme. So kann ich meine Dankbarkeit ausdrücken.» Neben den hinduistischen Feuerzeremonien, die er manchmal mit Zuschauern und Zuschauerinnen, oft aber auch ohne ebensolche durchführt, bietet der Waldbewohner auch schamanische Taufen an. «Eine bestimmte Religion habe ich keine», antwortet er auf die Frage, ob er ein Schamane sei. «Ich lasse mich nicht leicht einordnen.» Anhand der Rituale und Utensilien in seinem Waldtempel und seiner Ausbildungen in Europa schliesse ich dennoch auf hinduistische und schamanische Grundsätze.

Der fluchende Buddha
Glasklar, die Iris in einem warmen Haselnussbraun, präsent, ehrlich und freundlich. Doch da ist noch etwas anderes im Blick des bärtigen Mannes.

Was ihn von einem allliebenden Buddha unterscheidet, wird klar, als das Thema Gesellschaft aufkommt, welche laut Fava «absolut schizophren» ist. «Wenn die Wirtschaft wächst, dann profitieren genau die Reichen davon. «Du und ich, uns geht es immer schlechter». Fava gerät immer stärker in Rage. Manchmal verfällt er in ein lautes Lachen und schmückt seine Ausführungen mit allerlei Fluchworten aus – allerdings auf eine so selbstverständliche Art und Weise, dass mich die groben Ausdrücke nicht lange beunruhigen. «Die Geschäfte, welche die Wirtschaft wirklich am Laufen halten, sind die mit Waffen und Drogen.» Fava kommt vieles leicht über die Lippen, das mancher und manche gerne sagen würden. Von Demokratie sei hierzulande nicht viel übrig. «Bundesbern hat ja sogar öffentlich kundgegeben, dass es die Lobbyisten geheim halte, die dort oben sitzen.»

Der Spirituelle verstummt. Das Blätterdach rauscht gleichmässig, Vögel zwitschern. «Du hast also doch Hass in dir», bemerke ich. Fava schaut mich offen an. Er habe eben auch menschliche Gefühle. «Wenn ich einen Jäger treffe, der einen Hirsch nur wegen seines Geweihs erlegen will, dann macht mich das rasend!» Dann sage er ihm seine Meinung klipp und klar. «Aber während der meisten Zeit lebe ich im Hier und Jetzt. Wenn ich Holz spalte, dann überlege ich mir, wie alt dieser Baum ist, wie viel er schon gesehen hat und bin einfach nur dankbar, Hand in Hand mit der unglaublichen Natur zu leben.»

Aussichtlose Lage
Gehört die Natur allen? Nicht wirklich, und erst recht nicht, wenn sie sich als dichte Ansammlung von Bäumen darstellt. «In der Schweiz ist Wald heilig», erklärt mir ein Vertreter der Gemeinde Saanen, als ich ihn nach der gesetzlichen Situation frage, der Fava gegenübersteht. «Grundsätzlich ist es unsere Aufgabe, Baugesuchsteller und Baubewilliger beim Finden einer Lösung zu unterstützen.» In jedem Fall stünde aber das Bundesrecht als oberste Instanz. «Wir hätten ihm gerne weitergeholfen», teilt mir die Gemeinde am Telefon mit. «Doch beim Raumplanungsgesetz und der Waldverordung haben wir es mit den schärfsten Gesetzen des Landes zu tun.» (Siehe Kasten)

Das Waldgebiet, in dem sich der Spirituelle niedergelassen hat, gehört der Burgergemeinde Bern. Diese hat bereits Erfahrung mit illegalen Bewohnern. Seit dem Jahr 2016 lieferten sich nämlich die «Wald-Hippies vom Bremgartenwald», wie es der «Bund» einmal formulierte, ein Tauziehen mit der Organisation. Vor kurzem hat die Stadt Bern gegenüber SRF bekannt gegeben, dass sie der Gruppe von Aussteigern ein Waldstück zur Verfügung gestellt habe, auf dem sie ungestört wohnen könnten.

Zum Fall in Saanen sagt Burger-Sprecherin Stefanie Gerber Folgendes: «Wir pflegen und bewirtschaften unsere Wälder naturnah. Das Wohnen im Wald entspricht diesem Kriterium nicht.» Es sei der Burgergemeinde Bern ein Anliegen, in Koordination mit den Amtsstellen von Kanton und Gemeinde wieder einen rechtmässigen Zustand herzustellen. Auf die Anmerkung, dass Fava sehr naturnah lebe, sagt die Pressesprecherin: «Grundsätzlich geht es um ein gesellschaftliches Problem. Das ganzjährige Wohnen im Wald ist eine Zweckentfremdung, belastet den Wald und ist nicht erlaubt – für niemanden.»

Jörg Fava verbrachte vor mehr als zehn Jahren einen Winter auf dem Campingplatz beim Kappeli in Saanen und freundete sich mit der Besitzerin an. Seit zehn Jahren ist er Dauermieter einer Parzelle. Doch Fava will noch näher zur Natur. «Mein Ziel ist es, 365 Tage pro Jahr im Wald zu leben», sagt er. Dass er sich diesen Traum im Allmiwald erfüllen kann, danach sieht es momentan jedoch nicht aus. Auf einen Kampf mit der Gemeinde Saanen und der Grundeigentümerin sei er nämlich nicht aus.

Der Spirituelle zieht um
In den weiten Wäldern anderer Länder wie Kanada wäre das Wohnen im Wald wahrscheinlich weniger problematisch, wissen sowohl die Gemeinde Saanen wie auch Fava selbst. «Ich will aber im Einklang mit der heimischen Natur leben können», erklärt er. Auf Ende September muss er seinen Platz im Allmiwald verlassen. «Ich werde mein Zeltlager und das Hundegehege abbauen.» Die Erdschwitzhütte und die heilige Feuerstelle, welche aus Steinen und Erde erbaut sind, werde er jedoch stehen lassen. «Sie sind durch die unzähligen Zeremonien zu heiligen Kraftorten geworden.» Wohin es ihn als Nächstes ziehen werde, sei noch unklar. Der Naturmensch hat für die bürokratischen Hürden von Westeuropa nur ein bitteres Lächeln übrig. «Legal, illegal, sch… egal», meint er und spricht damit wohl dem Mäuschen aus der Seele, das gerade vor unseren Füssen durchhuscht.

Ich selbst habe während meines Aufenthalts im Allmiwald das Zeitgefühl verloren. Erst das Klingeln meines Handys, das mich an einen (verpassten) Termin erinnert, reisst mich unsanft in den Alltag zurück. Widerwillig nehme ich den Weg zurück ins Büro unter die Füsse und frage mich währenddessen, was das ganze Drama ausserhalb des Waldes eigentlich soll.


ZUR PERSON

Jörg Fava wurde 1971 in Deutschland geboren und kam im Alter von vier Jahren zu seiner Adoptivfamilie in die Schweiz. Nach Abschluss der regulären Schulzeit arbeitete er als Schreiner und Zimmermann in den Kantonen Thurgau und Bern. Darauf folgten verschiedene Tätigkeiten im handwerklichen Bereich. Vor zehn Jahren bezog Fava einen Standplatz auf dem Campingplatz Saanen beim Kappeli, welcher bis heute sein offizieller Wohnsitz ist. Mittlerweile verbringt der 48-Jährige jedoch 90 Prozent des Jahres in einem selbsterbauten Zeltlager im Saaner Allmiwald.


BAUEN IM WALD

Laut Artikel 699 des Zivilgesetzbuches ist das «freie Betreten von Wald und Weide» in «ortsüblichem» Umfang gestattet. Den Wald unbewilligt zu bebauen oder dauerhaft zu bewohnen, ist in der Schweiz jedoch illegal. Auf Bundesebene sind diese Vorgaben im Raumplanungsgesetz und der Waldverordnung festgehalten. Forstliche Bauten wie Forstwerkhöfe, Energieholzlager und Waldstrassen werden deutlich einfacher bewilligt als nicht forstliche. Installationen wie Vita-Parcours und Feuerstellen benötigen in jedem Fall eine Ausnahmebewilligung. «Bauten, die für die Erhaltung nicht unentbehrlich sind, sind grundsätzlich unzulässig», steht in einem Gerichtsentscheid aus dem Jahr 2000.


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