Ein Märchen ohne Happy End

  13.09.2019 Leserbeitrag

Es war einmal ein ideales Kinderheim. Es befand sich in einem Vorort von Cochabamba und wurde von einer ausländischen Nonne geleitet. Sie hatte gute Kontakte zu ihrem Bistum in der Heimat und bekam von dort alles Geld, das sie brauchte. Sie hatte den besten Willen der Welt, gute Arbeit zu leisten. Die Kinder hatten immer neue Kleider, Angestellte putzten täglich das Haus und die Zimmer. Jeden Tag wurden die Kinder vom eigenen Bus in eine Privatschule gefahren. Die Lebensmittel kauften sie im Supermarkt. In Bolivien sind Supermärkte für die Reichen, die Normalsterblichen gehen auf den Markt, wo die «cholitas», die Indianerfrauen, auf dem Boden sitzen und zu bescheidenen Preisen ihre Produkte vom Land feilbieten. Gekocht wurde im idealen Kinderheim nur vom Besten. Jeden Tag gab es ein mehrgängiges Menu mit Nachtisch und allem Drum und Dran. In der Küche brauchten die Kinder und Jugendlichen nicht mitzuhelfen, denn es gab genügend Angestellte. «Du verziehst die Kinder», sagte einmal eine Freundin zu jener Nonne. «Was soll aus ihnen später werden?» Aber die Nonne ärgerte sich über solche Warnungen: «Du kannst mir doch nicht verbieten, sie wie eigene Kinder zu behandeln!» «Mein Gott, nicht mal die eigenen Kinder behandelt man so», murmelte die Freundin, aber die Nonne hörte nicht auf sie. Unter den glücklichen Kindern des idealen Kinderheimes befanden sich Mery, Alfonso und Paola. Mery war als einjähriges Mädchen in das ideale Kinderheim gekommen. Sie war ein aussergewöhnlich schönes Mädchen mit grossen, ausdrucksstarken Augen. Sie wurde deshalb von allen liebevoll «Ojitos» genannt, was «Äugchen» bedeutet. Alfonso war sehr vornehm, so vornehm, dass er sich immer von allen bedienen und sich «König» nennen liess. Paola war unauffällig und schweigsam. Nur unauffällige Menschen haben in Bolivien keinen Beinamen. Alle diese Kinder lebten glücklich und zufrieden, bis eine böse Verwalterin begann, das Geld der Nonne zu stehlen. Die Nonne hat grosses Vertrauen zu dieser Verwalterin. Am Schluss war das Loch in der Kasse so gross, dass die Nonne die Löhne der vielen Angestellten nicht mehr bezahlen konnte und buchstäblich bankrottging. In ihrem Bistum in der Heimat drehte man ihr den Geldhahn zu. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das ideale Heim zu schliessen und zu verschwinden. Die Kinder und Jugendlichen, die nun auf andere Heime verteilt wurden, fielen verständlicherweise aus allen Wolken. Das «Äugchen» Mery, der «König» Alfonso und die unauffällige Paola landeten bei uns in Tres Soles. Sie hatten alle ungefähr das gleiche Alter, so ungefähr 13 bis 14 Jahre. Mery, Paola und Alfonso standen im Gang vor unserem Büro, von wo man einen herrlichen Ausblick auf die Felder und Berge der Umgebung hatte. Besonders Alfonso sehe ich noch heute vor mir stehen. Er hatte eine schicke Jacke an und steckte in funkelnden, nagelneuen Halbschuhen. «Was? Ich soll auf dem Land leben?», stiess er empört hervor. «Das kommt überhaupt nicht in Frage! Das könnt ihr nicht mit mir machen, ich bin daran gewöhnt, in der Stadt zu leben!»

Er stellte sich so stur, dass ihn die Beamten vom Jugendamt wieder mitnehmen und etwas anderes für ihn suchen mussten. Mery und Paola blieben. Paola schickte sich relativ schnell in die neuen Umstände, aber Mery tat sich schwer. Sie glaubte, dass es bei uns nicht anders als im idealen Kinderheim wäre und es Angestellte für alles gäbe – aber dem war nicht so. Mery konnte keine Kartoffel schälen, ohne sich scheusslich in die Finger zu schneiden. Sie konnte kein Kuchenblech in den Ofen schieben, ohne sich die Arme zu verbrennen. Sie schwitzte und ächzte im Gemüsegarten und schlug sich mit dem Pickel auf den Fuss. Sie wurde böse und aggressiv und beleidigte alle. Da sie selbst schön und wohlgewachsen war, hatte sie wohl so etwas wie einen Überlegenheitskomplex. Natürlich war sie über unser Essen vom Markt unzufrieden. Sie erbrach sich und war ständig krank. «Mery, du solltest dich nicht als jemand Besseres fühlen», sagte Guisela eines Tages zu ihr. Offensichtlich hatte sich Mery nie gefragt, woher sie kam und war auch nie darüber aufgeklärt worden. «Deine Mutter war ein Strassenmädchen, die Schusterleim schnüffelte und dein Vater kam kurz nach deiner Geburt wegen Raub ins Gefängnis. Von beiden hat man nie wieder etwas gehört.» «Was sagst du da? Warum lügst du?», fragte Mery mit grossen Augen. «Schau, Mery, hier steht es geschrieben», erwiderte Guisela und zeigte ihr die wenigen Dokumente, die es von ihr gab. «Das ist deine Wirklichkeit …» Mery weinte daraufhin einen ganzen Tag lang, aber dann begann auch sie, sich mit der neuen Lage abzufinden. Im Grunde war sie ein fröhliches und gesprächiges Mädchen. Sie war ehrlich, stahl nicht und war eine gute Schülerin. Mery arbeitete mit der Zeit besonders gern in der Backstube. Es tat ihr offensichtlich gut, auf dem Tisch Teigkugeln zu Brötchen zu formen und mit der Betreuerin, die für die Backstube verantwortlich war, zu plaudern. Sie hiess Gaby und arbeitete schon mehrere Jahre in Tres Soles, um dreimal pro Woche mit den Jugendlichen Brot zu backen.

Manchmal ist es für den Veränderungsprozess dieser Kinder und Jugendlichen entscheidend, eine Bezugsoder Vertrauensperson, einen «Lieblingsbetreuer» zu haben, der sie dann auch zu dieser oder jener Aktivität hinführen kann. Auch wenn Tres Soles für Mery und Paola gewiss kein Happy End wie im Märchen bedeutete, waren sie doch mit beiden Füssen auf den Boden angekommen und hatten schnell gelernt, ein «normales» Leben zu führen. Mit Alfonso, dem «König», gab es allerdings noch ein unangenehmes Nachspiel. Nachdem er es verschmäht hatte, auf dem «Land» zu leben, war er in ein Kinderheim in der Stadt eingewiesen worden. Dort hatte er versucht, mitten in der Nacht und mittels einer Leiter in das Mädchenzimmer im zweiten Stock einzusteigen. Als er schon fast angelangt war, stürzte er mitsamt der Leiter und erlitt einen Schädelbruch. Den Kopf rasiert und voller Narben wurde er daraufhin zu uns zurückgeschickt. Nach einigen Monaten versuchte er auch in Tres Soles, in die Mädchenzimmer einzusteigen, wurde jedoch dabei erwischt. Zum Glück hatten wir in der Zwischenzeit einen erwachsenen Bruder von ihm ausfindig gemacht, dem wir Alfonso übergeben konnten. In Tres Soles wurde er übrigens nicht mehr «König Alfonso» genannt, sondern «Alfonso Sonso», was «Alfonso Dummkopf» bedeutet – leider reimt es sich auf Deutsch nicht so schön wie auf Spanisch.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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