«Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben»

  29.10.2019 Gstaad

Bereits am ersten Abend der Veranstaltungsreihe «Leben in Würde und Sterben in Würde», organisiert von den Landeskirchen des Saanenlandes, dem Alterswohnen Maison Claudine Pereira, dem Altersheim Pfyffenegg sowie der Spitex Saanenland, lauschten über 70 Personen den Ausführungen von Dr. theol. Heinz Rüegger.

VRENI MÜLLENER
«Dank hochentwickelter Medizin wurde das Sterben verlängert und institutionalisiert» hielt der freischaffende Ethiker zu Beginn fest. Wir sterben heute langsamer, oft nach längeren chronischen Krankheiten im hohen Alter, meistens in einem Heim oder Spital. Dabei möchten die meisten Menschen zu Hause und rasch sterben und befürchten, dass die Medizin «einen» nicht sterben lasse. Sterben unter den heute gegebenen Bedingungen rufe Ängste hervor: Angst vor technischer Verfremdung des Sterbens, vor professioneller Fremdbestimmung oder vor Leidensverlängerung durch Lebensverlängerung. Der Verlust der Würde vor und beim Sterben, wenn Selbstständigkeit, Selbstkontrolle und Selbstbestimmung nicht mehr möglich seien, sei für die meisten Menschen ein fast unerträglicher Gedanke, so Rüegger.

Sterben wurde vom Schicksal zum «Machsal»
Es funktioniere nicht immer, wenn man glaube, Gott sage dann schon, wann es Zeit zum Sterben sei. Die Menschen hätten die Hände dabei im Spiel, ob sie wollten oder nicht. In der Schweiz sterben bis zu drei Viertel aller Personen, erst nach einer entsprechenden Entscheidung. Seit dem 1.Januar 2013 ist das Recht auf selbstbestimmtes Leben in der Verfassung verankert. Nicht der Arzt, die Pflegenden oder die Angehörigen entscheiden, wann lebensverlängernde Massnahmen nicht mehr angewendet werden sollen. Es ist der Patient selber oder diejenige Person, die vom Betroffenen zu seinem Stellvertreter bestimmt wurde. In der heutigen Zeit stehen folgende Möglichkeiten zur Diskussion:
– Passive Sterbehilfe: Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen. Nichts mehr zu machen, ist auch eine Entscheidung.
– Indirekte Sterbehilfe: Schmerzbekämpfung mit möglichen, lebensverkürzenden Auswirkungen.
– Sterbefasten: Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (passiver Suizid).
– Assistierter Suizid: Suizidhilfe, wie sie Exit anbietet.
«Der assistierte Suizid, wie ihn Exit anbietet, betrifft nur einen ganz kleinen Prozentsatz an sterbenden Menschen,» beruhigte der Gerontologe. Dass der Mensch entscheiden könne, ob er den Tod zulassen oder verhindern wolle, sei ein Gewinn an Freiheit und Verantwortung, es sei aber auch eine Zumutung, die ihn oft überfordere, weiss Rüegger.

Wie können wir mit dieser Freiheit umgehen?
Heute müssen wir lernen mit der uns zugemuteten Freiheit umzugehen. Der Ethiker empfahl, dass wir wir eine offene Haltung entwickeln gegenüber dem Tod als etwas, das grundsätzlich zum Leben gehöre. Er gab folgende Tipps:
– Schon im 90. Psalm heisst es: «Denke daran, dass du sterben musst.»
– Carpe diem (nutze den Tag): Wer das Leben bewusst lebt und jeden Tag intensiv auskostet, wird eines Tages lebenssatt.
– Abschiedlich leben lernen: Vertrautes loslassen, z.B. Zügeln ist eine gute Lebensübung – aufbrechen, Altes zurücklassen und weitergehen. Wenn Angehörige und Freunde sterben, lernen wir, immer mehr Abschied zu nehmen.
- Eine Patientenverfügung auszufüllen und mit nahe stehenden Menschen darüber reden, hilft zu überlegen, was einem im Hinblick auf das Sterben wichtig ist.
- Man kann sich erkundigen, wie man unter den Rahmenbedingungen eines modernen Gesundheitssystems sterben kann. Es ist kein Schaden, sich schon früh mit Palliativpflege auseinanderzusetzen.
- Rechtzeitig die Möglichkeiten eines leichten Sterbens als Chance zu ergreifen und den Tod nicht mit allen medizinischen Mittel hinauszuschieben, kann eine Möglichkeit sein, langer Pflegebedürftigkeit zu entgehen.

Verschiedene Perspektiven
In der anschliessenden kurzen Runde wurden Fragen zur Patientenverfügung beantwortet. Ein pensionierter Arzt gab seiner Enttäuschung Ausdruck. Er hatte das Gefühl, dass das Vertrauen in den Hausarzt, ins Pflegepersonal und auch die Einbettung in kirchliche Organisationen und dadurch der Glaube an Gott durch die Glaubensgrundsätze des Instituts Neumünster, (Kompetenzzentrum für Lebensqualität im Alter), ausgehebelt worden seien. Rüegger ist freier Mitarbeitender des Instituts. Ganz anders empfand eine ehemalige Buschhebamme den Abend und beteuerte, dass es genauso sei, wie Rüegger es beschrieben habe. Die Fragen nach lebensverlängernden Massnahmen stellten sich im Busch nicht, weil es diese Möglichkeit dazu gar nicht gebe.

«Wer den Tod nicht verdrängt, sondern in das Leben hineinnimmt, hat mehr vom Leben!» Mit diesem abgeänderten Satz von Manfred Lutz (siehe Titel) schloss Heinz Rüegger diesen intensiven Abend, der im wahrsten Sinn des Wortes ans Lebendige ging.


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