Eine Küche, in der nicht nur gekocht wird

  01.10.2019 Leserbeitrag

Der Wochenbeauftragte läutet die Glocke, die in einer Ecke im Hof hängt. Es ist fünf Uhr nachmittags und Zeit zum Tee. Der Wochenbeauftragte ist eine oder einer der Jugendlichen, die unter anderem die Reinigungsarbeiten in der Wohngemeinschaft und die Ordnung im Esszimmer überwachen müssen. Wie der Name besagt, wird er nach einer Woche von einem anderen abgelöst. Nachdem er die Glocke geläutet hat, lässt er in voller Lautstärke Musik laufen, sodass man sie bis in den hintersten Winkel des Hauses hört. Die Kinder und Jugendlichen wissen, dass sie von diesem Moment an zehn Minuten Zeit haben, um sich etwas ordentlich zurechtzumachen, die Hände zu waschen und ins Esszimmer zu kommen. Am Türpfosten hängt ein grünes Schild mit der Aufschrift: «Komm herein.» Nach zehn Minuten stellt der Wochenbeauftragte die Musik ab und dreht das Schild um. Die Rückseite ist rot und trägt die Aufschrift: «Warte.» Das heisst, dass die Verspäteten vor der Tür warten müssen, bis sie gerufen werden. Das alles ist nötig, weil die Kinder und Jugendlichen von Tres Soles – und Bolivianer im Allgemeinen – die Gewohnheit haben, zu allem zu spät zu kommen, seltsamerweise sogar zum Essen, obwohl doch viele von ihnen früher unternährt und sogar Hunger gelitten haben.

Während der Wochenbeauftragte die Jungen und Mädchen in das Esszimmer einlässt, haben zwei andere Jugendliche den Tee in grosse Kannen gefüllt und Brötchen bereitgestellt. Die Küche wird bei uns gleichfalls als «Werkstatt» betrachtet, in der alle Jugendlichen, Jungen und Mädchen, in Zweiergruppen Dienst machen und Kochen lernen müssen. Es war von Anfang an klar, dass diese Arbeit nicht bezahlt werden würde wie die Arbeit in der Näh- und Kartenwerkstatt und in der Bäckerei, deren Produkte «verkauft» werden. «Schliesslich muss überall gekocht werden, wo gegessen wird. Das war auch in den Familien so, wo sie vorher gelebt haben», lacht Braulio, der sich neben seiner Lehre als Schreiner zusätzlich als Koch weitergebildet hat und auch für die Küche verantwortlich ist. «Die Jugendlichen, die wöchentlich Schicht haben, sind für das Frühstück, den Nachmittagstee und ein einfaches Abendessen verantwortlich. Ich koche das Mittagessen, da vormittags alle in der Schule sind. Zusammen mit den Jugendlichen, die Dienst haben, stellen wir jede Woche einen Speiseplan auf, da die Mahlzeiten ausgewogen und gesund sein sollen. Jeden Freitagmorgen um fünf Uhr gehen wir auf den Markt und kaufen sämtliche Lebensmittel ein, die wir für die Woche benötigen.»

Viele der Jungen und Mädchen, vor allem Neuzugänge, sind an Gemüse und Salat nicht gewöhnt. Obwohl Bolivien fruchtbare Täler und Ebenen besitzt, beschränkt sich das Essen vor allem der ärmeren Bevölkerungsschichten auf Reis und Nudeln, und wenn das Geld ausreicht, gibt es auch ein wenig Fleisch. Es kann daher in Tres Soles durchaus passieren, dass einer der Kleinen versucht, seinen Teller mit Gemüseresten am Wochenbeauftragten vorbeizuschmuggeln, um sie in den Bioabfall zu werfen. Auch an ein nahrhaftes Frühstück sind viele Bolivianer nicht gewöhnt. Sie nehmen morgens höchstens eine Tasse Tee oder Kaffee und ein trockenes Brötchen zu sich. In den Tee und Kaffee wird zudem jede Menge Zucker gegeben. Der Zucker ist, neben dem Kokablatt, der grosse Energiespender der Notleidenden. Zucker ist eines der Hauptnahrungsmittel in Bolivien und relativ billig, da es im Tiefland grosse Zuckerrohrfelder gibt. Es ist keine Seltenheit, dass man fünf oder sechs Löffel Zucker in den Tee gibt, ohne an all die Konsequenzen zu denken, die sich daraus für die Zähne und die Gesundheit im Allgemeinen ergeben. «Warum schüttest du nicht gleich den Tee in die Zuckerdose?», kann ich mir dann manchmal nicht verkneifen zu fragen.

«Wie? Was? Wieso?»
«Na, überleg doch mal, dann hast du weniger Arbeit …»

Obwohl wir die Zielsetzungen für die Küche gemeinsam erarbeitet haben, in denen es heisst, «… dass man reichlich frühstücken soll, um sich in der Schule konzentrieren und lernen zu können», müssen die Kinder und Jugendlichen immer wieder aufs Neue dazu angehalten werden, wenigstens heissen Kakao und belegte Brötchen für das Frühstück vorzubereiten. Die verantwortlichen Jugendlichen sträuben sich auch oft, nur wegen des heissen Kakaos ein paar Minuten früher aufzustehen. Ein anderes Problem ist, dass sich gerade ältere Mädchen oft weigern, vernünftig zu essen, da sie «auf ihre Linie achten». In Bolivien werden die Spitznamen häufig von körperlichen Eigenschaften abgeleitet wie «Äugchen» oder «Lulatsch», und es ist besonders schlimm, wenn ein Mädchen den Beinamen «Dicke» verpasst bekommt. Sie wird ihn nicht mehr los, auch wenn sie das Übergewicht längst verloren hat; in der Hinsicht ist man gnadenlos, was dann zur Folge hat, dass sich Mädchen mit Magersucht oder Bulimie herumschlagen müssen. Es kommt so weit, dass ein Arzt eingreifen muss, was in einem «Drittweltland» wie Bolivien absolut absurd klingt.

Doch kommen wir noch einmal zurück auf den Wochenbeauftragten, der die Essenszeiten ankündigt. Während wir uns also im Esszimmer versammeln, wacht der Wochenbeauftragte über das Verhalten am Tisch. Ich bin kein Freund von militärischer Disziplin, aber ich denke doch, dass eine gewisse körperliche Haltung auch die innere Struktur des Menschen stärkt. Oft erwähne ich in der Theaterwerkstatt den russischen Theaterreformer Konstantin Stanislawski, der sagte, dass das körperliche Training eines jeden Schauspielers im gewöhnlichen Leben beginnt, mit einem straffen Gang, beim aufrechten Sitzen oder bei der Genauigkeit der Bewegungen. So ist es in Tres Soles verpönt, beim Essen halb über dem Tisch zu liegen oder die Ellbogen aufzustützen. «Es fehlt gerade noch, dass ich dir ein Kissen bringen muss», schnauzt dann der Wochenbeauftragte besagten Jugendlichen an oder er wiederholt, was bei uns zu einem geflügelten Wort geworden ist: «Wer nicht auf recht am Tisch sitzen kann, kann auch nicht aufrecht leben.»

Nach dem Essen lässt der Wochenbeauftragte die Triangel erklingen. Alle wissen, dass sie nun den Mund halten müssen, weil Informationen ausgetauscht werden und Hinweise auf gewisse, besondere Aktivitäten erfolgen. Erst jetzt wird das Schild am Türpfosten wieder auf Grün gedreht und die Wartenden dürfen eintreten, um ihren Tee oder ihr Essen zu sich zu nehmen.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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