«Macht Narkose dumm?» – Mythen und Realität moderner Narkosen

  29.11.2019 Zweisimmen

Mit dem Titel «Macht Narkose dumm?» traf Dr. med. Christine Weiss, ärztliche Leiterin der Anästhesie im Spital Zweisimmen, am Dienstag, 19. November im Spital Zweisimmen auf reges Interesse. Schliesslich formulierte sie eine Frage, die nicht nur Laien bewegt, wie die zahlreichen Zuhörer im Restaurant des Spitals Zweisimmen zeigten. Vielmehr war und ist diese Frage – natürlich in korrekter Fachterminologie formuliert – auch in der Wissenschaft Gegenstand von zahlreichen Studien und Diskussionen.

Gerade bei «grossen» Operationen treten häufig nach der OP Bewusstseinsstörungen und Sinnestäuschungen auf. Besonders auffällig und für Aussenstehende verstörend seien vor allem eine mögliche Unruhe oder gar Aggressivität des Patienten. Diese kurzfristigen Störungen, im Fachjargon als «Delir» bezeichnet, sind jedoch keine Folge der Narkose, sondern eher der Operation an sich. «Hauptrisikofaktor ist das Alter des Patienten und die Art der Operation», so Weiss. Glücklicherweise gehen diese Zustände in der Regel auch schnell wieder vorüber.

Ein differenzierteres Bild ergibt sich dagegen bei der Frage nach länger anhaltenden Störungen der Hirnleistung, der postoperativen kognitiven Dysfunktion (POCD). Das Them, dem sich Weiss ganz überwiegend an diesem Abend widmete. «Vor allem Gedächtnisstörungen fallen den Betroffenen oft selbst auf und können Wochen oder Monate anhalten», so Weiss. Aber ist die Ursache wirklich die Narkose? Sind die Medikamente, die während einer Operation auf das Gehirn einwirken, um Schmerzen zu verhindern, zu beruhigen und den Patienten «schlafen» lassen, auch ursächlich für Einschränkungen nach der OP?

«Nach allem, was wir heute wissen, ist das nicht der Fall», erläutert Weiss mit Hinweis auf eine ganze Reihe an Studien. Insbesondere sei kein bedeutender Unterschied des Risikos von kognitiven Störungen zwischen Regionalanästhesien und Vollnarkosen festzustellen – die Teilnarkose bringe daher an dieser Stelle keine Vorteile. Vielmehr gehe man heute davon aus, dass die Reaktionen des Körpers auf die Verletzungen, die mit einer OP zwangsläufig verbunden sind, auch die Hirnfunktion in Mitleidenschaft ziehen können.

Dennoch interessieren sich gerade die Anästhesisten für weitere Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit einer POCD beeinflussen. «Zusätzliche Risikofaktoren für anhaltende kognitive Störungen sind neben der Dauer und Schwere einer Operation auch ein schlechter Allgemeinzustand oder bereits bestehende Einschränkungen der Hirnleistung», führt Weiss weiter aus. Gerade bei älteren Patienten könne ein bereits vorhandener Abbau der geistigen Kräfte bei einer schweren Operation deutlich verstärkt werden. Speziell für Angehörige, die den Patienten in der Zeit vor der Operation nicht ständig um sich hatten und auch den schleichenden Abbau von Gedächtnisleistung und Konzentrationsfähigkeit nicht bemerkt haben, könne das schockierend sein. «Erkennt der Anästhesist entsprechende Risikofaktoren im Vorfeld, wird er gemeinsam mit dem Chirurgen die optimale Versorgung diskutieren», erklärt Weiss und führt fort, dass das in Einzelfällen sogar den kompletten Verzicht auf eine Operation bedeuten könne – zum Wohle des Patienten.
Kein Verständnis hat Weiss allerdings für Zeitungsmeldungen, die speziell bei Kindern dauerhafte Lernstörungen nach Vollnarkosen behaupten und sich dabei auf wissenschaftliche Studien beziehen. «Geht man den Quellen auf den Grund, dann kann man feststellen, dass im Rahmen der zitierten Studien nur sehr wenige Kinder wirklich untersucht wurden», erklärt Weiss dem Publikum. Vielmehr handele sich im Wesentlichen um Studien, in der junge Ratten mit überhöhten Dosierungen von gar nicht mehr gebräuchlichen Narkosemitteln über einen extrem langen Zeitraum in Narkose versetzt wurden, ohne dabei deren Atmung und Kreislauf zu überwachen. Das habe mit der Realität von Kindernarkosen ihrer Ansicht nach überhaupt nichts mehr zu tun. Stattdessen verweist die erfahrene Anästhesistin auf Studien mit Tausenden von Zwillingspaaren aus den skandinavischen Ländern. «Es zeigt sich, dass bei Zwillingen, von denen einer eine Operation mit Vollnarkose im Kindesalter hatte und der andere nicht, keine substanziellen Unterschiede im Lernen und Denkvermögen feststellbar sind», führt Weiss aus.

Nach Abschluss des Vortrags nutzten die Anwesenden die Möglichkeit, Fragen zu stellen und diskutierten untereinander und mit Frau Weiss noch angeregt über offene Punkte und eigene Erfahrungen. Mit dabei natürlich auch die Frage, wie man denn sein ganz persönliches Risiko senken könnte, nach einer Operation an Gedächtnisstörungen zu leiden. «Auch Rauchen und Alkoholkonsum sind Risikofaktoren», antwortete Weiss vielsagend und verdeutlichte damit noch einmal, dass eben vieles auch eine Abwägung erfordere.

ARMIN BERGER


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