«Texte sind etwas Persönliches»

  12.11.2019 Gsteig

Im Rahmen der schweizerischen Erzählnacht lasen fünf Schreiberlinge aus der Region eigene Texte vor und sprachen mit Autor Walter Raaflaub darüber, ob Schreiben eine Sucht ist.

SARA TRAILOVIC
Am letzten Freitag luden die Schule und Bibliothek Gsteig-Feutersoey, der Literarische Herbst Gstaad und Müller Medien zur Erzählnacht ein. Dabei lasen fünf Teilnehmer/innen der Schreibwerkstatt, welche im Rahmen des Literarischen Herbsts durchgeführt worden war, Kritzeltexte und weitere Texthäppchen vor. Während der anschliessenden Fragerunde diskutierten sie mit Autor Walter Raaflaub über Sinn und Sucht des Schreibens.

Erste Schreibwerkstatt – ein Erfolg
«Ich habe schon immer geschrieben», antwortete Lynn Hefti auf die Frage, wie lange sie schon Texte verfasse. «Am liebsten Fantasy- und Krimiromane.» Sie war mit elf Jahren die Jüngste der sechs Schreiberlinge, die sich an zwei Herbstabenden in Gsteig getroffen und während je drei Stunden geschrieben, diskutiert und gelesen hatten. «Ich habe gelernt, wie viel es bringt, Feedback von anderen zu bekommen und über die Texte zu sprechen», sagte Lynn in der Diskussionsrunde nach der Lesung.

«Trotz verschiedener Altersstufen und Themen konnten alle auf Augenhöhe diskutieren», sagte die Lektorin Birgit Fritsch aus Zürich im Gespräch mit dem «Anzeiger von Saanen». Sie leitete den Kurs zusammen mit Liliane Studer, Programmverantwortliche des Literarischen Herbsts Gstaad. «Die Schreibwerkstatt war auf ganzer Linie ein Geben und Nehmen», freute sich Studer und fügte an, dass dies Vertrauen voraussetze. «Texte sind immer etwas Persönliches.» Besonders die Einzelbesprechungen seien intensiv gewesen, so Birgit Fritsch. Daneben lasen die Schreibenden ihre Texte auch im Plenum vor, gaben sich gegenseitig Rückmeldungen und durften verschiedene Schreibübungen absolvieren.

Vorlesen braucht Mut
Während so einer Übung entstanden auch die Kritzeltexte, welche die Teilnehmenden am Freitagabend in der Bibliothek Gsteig vorlasen. Bevor die Kurztexte entstanden waren, hatten die Teilnehmenden während einer Minute frei von jeglichen Vorgaben ein Blatt vollgekritzelt. Danach schrieben sie auf, was auch immer ihnen durch den Kopf ging. Dementsprechend unterschiedlich fielen die Inhalte aus: Morgenstimmung, Impressionen einer Wanderung, das Dasein eines Bluetooth-Lautsprechers, Wanderschuhe und Spinnen.

Auch die Texte, welche in ihrer Freizeit entstanden und im Rahmen der Werkstatt überarbeitet worden waren, variierten stark. Edwin Oehrli und Evelyne Moser lasen abgeschlossene Gedichte, während Lynn Hefti, Ruth Wimmer und Alexandra Borgeaud Ausschnitte aus grösseren Projekten mit dem Publikum teilten. Alle anwesenden Teilnehmer/innen sagten auf Anfrage, dass dies ihre erste Lesung gewesen sei. «Es braucht schon Mut, eigene Texte vorzulesen», sagte Lynn Hefti während der Fragerunde. «Das wird mit dem Alter nicht besser, im Gegenteil», schmunzelte daraufhin Edwin Oehrli.

«Ich bin nicht mehr nervös, seit ich zu meinem Schweizer Hochdeutsch stehe», lachte hingegen Walter Raaflaub. Er habe sich einfach gefreut, in Gsteig zu lesen. Der Lehrer, Taxifahrer und Arzt las eine Handvoll amüsanter und zum Nachdenken anregender Kurzgeschichten aus seinem neusten Buch «Taxigeschichten – Auf Umwegen ans Ziel» (mehr dazu in der Ausgabe vom 18. Juni 2019).

Diskussionsrunde mit Walter Raaflaub
«Ich habe das Gefühl, dass die Geschichten, die ihr heute vorgelesen habt, für euch früher oder später von Bedeutung sein werden.» Raaflaub sprach mit den Werkstattsteilnehmer/ innen nach seiner Lesung darüber, wie Texte entstehen können. «Schreibt alles auf und archiviert es», forderte er sie auf. «Es könnten einmal Geschichten daraus werden, wenn ihr die Notizen wieder hervornehmt.» Allerdings müsse da meist viel gestrichen werden, er kenne das. Und das schmerzhafte dabei sei, dass meist die Lieblingsstellen weichen müssten, ganz nach dem bekannten Leitsatz «Kill your Darlings».

Aus dem Publikum kam die Frage, ob Schreiben eine Sucht sei. Edwin Oehrli: «Für mich ist Schreiben wie das Ablegen von Gedanken auf einer externen Festplatte.» Sobald etwas auf Papier stehe, sei er befreit davon. «Das ist ein gutes Gefühl.» Also vielleicht doch eine Art Sucht? Walter Raaflaub konnte sich damit identifizieren. Er habe aus diesem Grund immer einen Notizblock neben dem Bett. «Meine Frau schüttelt manchmal den Kopf, wenn ich nachts um zwei plötzlich das Licht anmache und etwas notiere.» Aber auch wenn es nur zwei Sätze seien, am Morgen wache er auf und wisse: «Ich hatte einen guten Gedanken.» Der Autor dachte kurz nach. «Wahrscheinlich ist es schon eine Sucht, aber eine, für die ich dankbar bin.»

Von Kindern für Kinder
Kinder aller Stufen der Schule Gsteig-Feutersoey, vom Kindergarten bis zur Sek I, hatten einen Beitrag zur Erzählnacht am Freitagabend geleistet. «Die Oberstufe hat zum Beispiel einzelne Artikel aus den Kinderrechten ausgewählt und Poster dazu gestaltet», informierte Vreni Marti von der Bibliothek Gsteig auf Anfrage. Das Recht auf Bildung war in Form einer Lesespur erfahrbar und der Kindergarten hatte zusammen mit der Unterstufe im Sinne des Rechts auf Gesundheit reichlich Gemüse für das Apérobuffet gerüstet. Und bevor in der Bibliothek Kostproben aus der Schreibwerkstatt und Raaflaubs «Taxigeschichten» gelesen wurden, konnte die Jugend ebenfalls Geschichten lauschen oder in der Kinderbuchecke verweilen.

Schulhaus und Bibliothek Gsteig waren voll mit jüngeren und älteren Leseratten, welche den Abend bei fröhlicher Stimmung genossen. Die erste Schreibwerkstatt sei für Teilnehmende und Leiterinnen lehrreich gewesen, freute sich Liliane Studer. Sie hatte schon einige Jahre mit der Durchführung einer Schreibwerkstatt geliebäugelt und konnte die Idee nun unterstützt von Vreni Marti erfolgreich in die Tat umsetzen. Daher konnte Studer am Ende des Programms zurecht sagen: «Stossen wir an, aufs Schreiben, aufs Lesen, auf den Winter und überhaupt.»


SCHWEIZER ERZÄHLNACHT

Die Schweizer Erzählnacht ist ein Leseförderungsprojekt des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM in Kooperation mit Bibliomedia Schweiz und UNICEF Schweiz. Dabei werden jeweils Schulen, Bibliotheken, Buchhandlungen, Jugendtreffs und andere Institutionen im ganzen Land zum Mitmachen aufgefordert. Das diesjährige Thema war «Wir haben auch Rechte! – Nous avons aussi des droits! – Abbiamo anche dei diritti! – Nus avain era dretgs!» Anlass dafür ist das Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention. Diese wurde vor 30 Jahren verabschiedet und hält in 54 Artikeln das Recht auf Nicht-Diskriminierung, auf Leben, Überleben und Entwicklung, auf Mitwirkung und das Kindeswohl fest.

Quelle: www.sikjm.ch

 


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