Demokratie in Bolivien

  12.11.2019 Leserbeitrag

Aus aktuellem Anlass und da – wie ich vernommen habe – man in Europa nicht sehr viel über die Präsidentschaftswahlen, die am 20. Oktober in Bolivien stattgefunden haben, gehört hat, unterbreche ich meine Berichterstattung über die Aktivitäten von Tres Soles, um mich heute zu den Wahlen zu äussern.

Trotz eines seitens der Regierungspartei übermächtig geführten Wahlkampfs, grösstenteils mit staatlichen Mitteln, schien es am Abend des Wahlsonntags, dass Evo Morales die absolute Mehrheit verpasst hatte und es zu einem zweiten Wahlgang gegen Oppositionsführer Carlos Mesa kommen würde. Unerklärlicherweise wurde jedoch die Zählung bei 85 Prozent der abgegebenen Stimmen unterbrochen, was natürlich immer zu Zweifeln Anlass gibt. Und siehe da, nach einer 24-stündigen Unterbrechung, kam die Meldung, dass Evo Morales plötzlich mit genügend Vorsprung führte und ein zweiter Wahlgang nicht vonnöten sei.

Die schlimmsten Befürchtungen über einen langfristig geplanten Wahlbetrug seitens der Regierung, seit 2006 an der Macht, schienen wahr zu werden. Hinzukommt, dass Evo Morales eigentlich ein verfassungswidriger Kandidat war, denn laut der von der Regierungspartei 2009 selbst entworfenen Verfassung darf ein Präsident nur einmal für eine weitere Amtsperiode wiedergewählt werden. Evo Morales ist bei diesen Wahlen jedoch bereits zum vierten Mal angetreten. Bei seiner dritten Amtszeit benutzte er die Ausrede, dass die erste Amtszeit noch unter die alte Verfassung falle und deshalb nicht mitgerechnet werden dürfe. Am 21. Februar 2016 erlitt er allerdings einen Rückschlag, als er eine Volksbefragung verlor, in der sich die Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung gegen eine Verfassungsänderung, die eine unbegrenzte Wiederwahl erlauben sollte, stellte. Die Wundertüte Evo Morales hatte jedoch noch einen anderen Trumpf im Ärmel, um um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Auf Berufung des Artikels 23 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (Pakt von San José de Costa Rica) erklärte er, dass eine Einschränkung der Wiederwahl gegen die Menschenrechte verstosse, und liess das Verfassungsgericht kurzerhand besagten Passus, der die Wiederwahl auf einmal beschränkte, für ungültig erklären!

Peinlich für Evo Morales und seine Strategen ist allerdings, dass der genannte Artikel 23 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention mit keinem Wort erwähnt, dass es gegen die Menschenrechte verstosse, wenn die Wiederwahlmöglichkeiten eines Präsidenten eingegrenzt würden. Wörtlich heisst es:
«Alle Bürger müssen in den Genuss folgender Rechte und Möglichkeiten kommen:
– sich direkt oder durch frei gewählte Vertreter an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen.
– bei regelmässigen Wahlen zu wählen und gewählt zu werden, die in allgemeiner und geheimer Abstimmung durchgeführt werden und die die freie Äusserung des Wählerwillens gewährleisten,
– Zugang zu haben zu den öffentlichen Funktionen ihres Landes unter gleichberechtigten Bedingungen.»
Ist das wohl der Grund, warum die Regierung von Evo Morales, ausser in den Bau von neuen Schulhäusern, nicht weiter in die Verbesserung des Schulsystems investiert hat, damit die Menschen weder richtig Lesen noch Schreiben lernen und für dumm verkauft werden können?

Vor diesem Hintergrund ist es jedoch nicht verwunderlich, dass es einen Tag nach der umstrittenen Wahl zu schweren Unruhen kam. In verschiedenen Städten wurden die Büros der Wahlbehörden gestürmt und angezündet. Fast täglich kommt es seither, ähnlich wie in Venezuela, zu Streiks, Blockaden und gewalttätigen Zusammenstössen zwischen den verfeindeten Lagern. Beide berufen sich darauf, die Demokratie zu verteidigen, aber das klingt doch etwas schal aus dem Mund derjenigen, die seit Jahren systematisch die Verfassung verletzt haben.

«Evo Morales hat viele Strassen, neue Schulhäuser und schöne Gebäude gebaut und bestimmt viel für die Menschen auf dem Land getan», erklärte ein vermummter Demonstrant einem Fernsehreporter, während hinter ihm eine schwarze Rauchsäule brennender Autoreifen in den Himmel stieg. «Aber er hat uns die Demokratie, das Wahlresultat gestohlen, er hat uns betrogen. Wir wollen die Demokratie zurück – und zwar jetzt!» Er drückte damit ganz sicherlich das Empfinden von Hundertausenden, eher wohl von Millionen von Bolivianern aus.

Präsident Evo Morales, anstatt eine politische Lösung für das Problem zu suchen, stellte sich als Opfer dar und beleidigte Menschen wie den genannten Demonstranten und die gesamte Opposition als «Brandstifter», «Verbrecher» und «Feiglinge», was natürlich nicht gerade half, die Lage zu entspannen. Zusätzlich goss er Öl ins Feuer, indem er die Landbevölkerung, die noch mehrheitlich zu ihm hält, aufrief, die Zugänge zu den Städten zu blockieren, um die Versorgung mit Lebensmitteln zu unterbinden.

Wir sind praktisch in Tres Soles eingeschlossen und versuchen, so weit wie möglich, einen normalen Alltag zu leben und unseren üblichen Tätigkeiten nachzugehen, obwohl die Betreuer, die weiter weg wohnen, natürlich nicht zur Arbeit kommen können. Unsere Speisekammer ist noch voll, da wir am Samstag einen «Waffenstillstand» ausnutzen und einkaufen konnten. Die Lebensmittel und Waren auf den Märkten gehen jedoch langsam aus, auch sind die Preise stark gestiegen und es wird tüchtig spekuliert. Währenddessen gehen die Zusammenstösse weiter und die Zahl der Toten und Verletzten wird weiter ansteigen. Ähnlich, wie es in Venezuela geschah, wird die Regierung wohl versuchen, die Protestbewegung auszuhungern und, mit dem Militär im Rücken, ihre Macht zu erhalten. Der vemummte Demonstrant, der sich vor laufender Kamera so treffend ausgedrückt hatte, wird wohl noch lange warten müssen, bis ihm die «gestohlene» Demokratie zurückgegeben wird.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4.

www.tres-soles.de


DIE EREIGNISSE ÜBERSCHLAGEN SICH

Dieser Artikel wurde letzte Woche geschrieben. Am Wochenende haben sich die Ereignisse in Bolivien überstürzt. Am Freitagabend meuterte die Polizei. Die Armee weigerte sich ebenfalls, auszurücken, was zur Folge hatte, dass allen öffentlichen Gebäuden, den Präsidentenpalast eingeschlossen, der Schutz entzogen wurde. Präsident Morales floh daraufhin in das Chapare-Gebiet, wo er vor Jahren seine politische Karriere als Gewerkschaftsführer der Kokabauern begonnen hatte. Am Sonntagmorgen wurde die bolivianische Gesellschaft von einem Bericht der Prüfungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) überrascht, in dem ein breit angelegter Wahlbetrug bestätigt wurde. Als Reaktion auf den zunehmenden Druck der Protestbewegung im ganzen Land gab Evo Morales am späten Sonntagnachmittag seinen Rücktritt bekannt.

STEFAN GURTNER

 


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