Die Pizzeria «Italia»

  22.11.2019 Leserbeitrag

Guisela, Eloy und ich sassen in der Pizzeria «Italia» im Zentrum von El Alto. Die Pizzeria «Italia» ist nicht Teil irgendeiner billigen Pizzakette, nein, hier wird echt italienische Pizza gebacken. Der Besitzer ist jedoch kein Italiener, sondern Eloy, ein mittlerweile erwachsener «Solesianer». Wenn man einmal in Tres Soles gelebt hat, bleibt man ein Leben lang ein «Solesianer». Auch über ihn, der aus der Anfangszeit von Tres Soles stammt, habe ich bereits viel erzählt und muss seine Lebensgeschichte in diesem Band nicht noch einmal erwähnen. Der Küchendienst in Tres Soles, den wir ebenso als eine Werkstatt betrachten, in der die Jugendlichen abwechselnd Dienst leisten und lernen zu kochen, ist, wie man sich vorstellen kann, nicht besonders beliebt, da er doch recht viel Zeit beansprucht und man früher als die anderen aufstehen muss. Trotzdem haben mehrere Jugendliche in der Küche von Tres Soles die ersten Handgriffe für ihren späteren Beruf erlernt, nämlich den eines Kochs. «Meine Eltern hatten scheinbar kein Geld», sagte Eloy etwas verbittert, während er die Pizzas, die Guisela und ich bestellt hatten, in den Ofen schob. Wir waren gerade dabei, Erinnerungen auszutauschen. «Als ich zwölf war, musste ich Schuhe putzen und Zigaretten verkaufen gehen. Da es manchmal spät wurde, blieb ich nachts in der Notschlafstelle, die ihr damals im Zentrum von El Alto hattet.»

«Wie lange das schon her ist! Zwanzig Jahre und mehr», seufzte Guisela. «Und jetzt haben wir graue Haare. Schau dir mal Stefan an!»

«Die grauen Haare hat er unseretwegen», flachste Eloy. «So viel ist in der Zwischenzeit passiert... Stellt euch nur mal vor, als ich zu euch kam, besass ich nichts, nur meine Schuhputzkiste und die alten, verdreckten Kleider, die ich auf dem Leib trug. Wie ihr euch sicher erinnern könnt, habe ich mir in der Kartenwerkstatt die ersten Pesos verdient ...» «Ja, aber du warst immer in der Küche, wenn du irgendwie konntest», sagte ich.

«Weil es dort immer so schön warm war, neben dem Topf mit der brodelnden Suppe!» Auch wenn ich es schon häufig erwähnt habe, muss ich es doch immer wieder tun. Wenn der eisige Wind von den Schneebergen des Illimani über die Stadt La Paz auf 4000 Metern Höhe hinwegfegt, fallen die Temperaturen abends oft weit unter null Grad und die Kälte kriecht einem förmlich in die Glieder - zumal man dort keine Heizungen, wie in weiten Teilen Europas, kennt. Allein die Nähe eines dampfenden Suppentopfs kann dann schon eine Wohltat sein, so wie es Eloy schildert, der in den Anfängen mit uns in unserer Wohngemeinschaft in El Alto, einem Randviertel von La Paz, lebte.

«Eigentlich hattest du nie grosse Probleme, wie andere sie hatten. Du bist auch immer gern zur Schule gegangen, nicht wahr?», fragte Guisela.
«Das war es, was mir am schwersten fiel, als ich Schuhe putzen gehen musste – nicht mehr in die Schule gehen zu können. In Tres Soles habe ich dann die Chance gehabt, die zwei verlorenen Schuljahre wieder aufzuholen. Nach dem Schulabschluss habe ich dann meinen Militärdienst in Tarija gemacht, wisst ihr noch?»

«Natürlich, und als du zurückkamst, gab es doch irgendein Problem mit deiner Familie...»

«Tja, meine Mutter und mein Vater haben mir zu Ehren ein grosses Fest veranstaltet. Erst haben sie scheinbar kein Geld, um mich durchzubringen und mich in die Schule zu schicken und dann mieten sie ein ganzes Tanzlokal und laden die ganze Nachbarschaft zu einem Fest ein, als ich vom Militärdienst zurückkomme. Ein Vermögen haben die für Essen, Trinken und Musik ausgegeben, das kann ich euch sagen. Und was haben die alle an Alkohol geschluckt!»

«Vielleicht haben deine Eltern jetzt etwas mehr verdient und konnten es sich leisten», begann ich vorsichtig.
«Ach wo, zum Saufen haben sie immer genug Geld gehabt. Sie haben lieber Bier gekauft und ihre Kinder zum Arbeiten auf die Strasse geschickt, das war immer so.» Ich muss Eloy leider recht geben. So geht es in vielen, bolivianischen Familien zu. Die Bierindustrie und die Tanzlokale in Bolivien sind nie krisengeschüttelt, ob die Kinder zuhause nun hungern müssen oder nicht. Eloy zog die Pizzas aus dem Ofen, die dort vor den Augen der Kunden zubereitet und gebacken werden. Ab und zu wechselte er ein Wort mit anderen Kunden, deckte eigenhändig Tische auf, räumte schmutziges Geschirr ab oder er entkorkte eine bolivianische Weinflasche aus der Region um Tarija, im Süden Boliviens, die bekannt ist für ihre guten Weine. Zwischen den Arbeiten, die er mit schnellen und sicheren Handgriffen erledigte, setzte er sich immer wieder eine Weile zu uns und wir frischten unsere Erinnerungen gegenseitig auf. «Ich entsinne mich noch genau daran», begann Eloy erneut das Gespräch, «wie schwer mir das fiel, als die Wohngemeinschaft nach Quillacollo umzog und ich in El Alto bleiben musste, um die Hotelfachschule zu besuchen. Ich war nach all den Jahren in der Gemeinschaft nicht mehr gewohnt, alleine zu leben.»

«Weisst du noch, dass du anfangs Schauspieler werden wolltest? Du hast damals den Hund im Kinderkreuzzug gespielt, als wir mit dem Stück monatelang durch Europa getourt sind», erinnerte ich Eloy an längst vergangene Zeiten.

«Oh ja, das war eine schöne und interessante Zeit», lachte Eloy. «Ich habe tatsächlich daran gedacht, auf eine Schauspielschule zu gehen, aber dann habe ich mich entschieden, Koch zu werden, nicht nur wegen der warmen Töpfe und Öfen.» Er wischte sich den Schweiss von der Stirn, denn in der Pizzeria «Italia» war es warm, obwohl es draussen regnete und ein eisiger Wind wehte.

«Als ich die Hotelfachschule abgeschlossen hatte, habe ich ein Praktikum in einem italienischen Restaurant in La Paz bei einem waschechten italienischen Meister gemacht – das merkt man doch, oder?» Guisela und ich bejahten lebhaft. Das erste Restaurant, das er mit Hilfe seiner Frau eröffnet hatte, war allerdings kein italienisches Restaurant gewesen, sondern ein «pollo frito» am Busbahnhof von El Alto, wo er Brathähnchen verkaufte. Das Geschäft war so einträglich, dass er sich später seinen Wunsch, einmal eine Pizzeria zu betreiben, erfüllen konnte. Zusammen mit seiner Frau und seinem Töchterchen hat er uns mehrere Male in Quillacollo besucht. Eines Tages, es war Weihnachten, tauchte er in Tres Soles auf, brachte jede Menge Lebensmittel und Zutaten mit und kochte für die Kinder und Jugendlichen. «Ich war auch einmal so einer wie ihr und habe in dieser Wohngemeinschaft gelebt», sagte er zu ihnen. «Seht nur, was auch aus uns werden kann, wenn wir uns nur etwas Mühe geben.» Eloy kochte auch ein wahres Festessen, als uns unsere Gönner aus der Kirchengemeinde St. Konrad in Tres Soles besuchten und als ich sie nach La Paz begleitete, von wo aus sie den Rückflug antraten, kehrten wir übrigens ebenfalls in der Pizzeria «Italia» ein.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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