Leben in Würde und Sterben in Würde (Teil 1)

  29.11.2019 Kirche

Selbstbestimmtes Sterben wird in zunehmendem Mass zum Normalfall. Die einen – es werden immer mehr – wollen über das Ende ihres Lebens selbst bestimmen. Wie sollen wir damit umgehen? Ist das ein Zugewinn an Freiheit? Oder eine Überforderung? Andere sprechen von Alternativen und reden von «palliativer Pflege». Was bedeutet das? Wie sieht eine solche Pflege aus?

In jedem Fall aber haben Sterben und Tod persönliche und rechtliche, spirituelle und soziale Folgen. Eine Veranstaltungsreihe, welche die reformierten Landeskirchen des Saanenlandes, die Altersheime Pfyffenegg und Maison Claudine Pereira sowie die Spitex Saanenland verantworten, diskutiert solche und ähnliche Fragen.

Auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund nimmt Stellung rund um das Thema «Lebensende». Nachstehend finden sich Auszüge aus einem Positionspapier.

BRUNO BADER

Was heisst selbstbestimmt leben und sterben?
Niemals zuvor konnten Menschen so tief und folgenreich in das Leben eingreifen wie heute. Für Christinnen und Christen kommt alles Leben von Gott, das er in die verantwortlichen Hände der Menschen gelegt hat. Aber folgt daraus auch der Umkehrschluss: Wenn wir fähig sind, Leben und Sterben zu verlängern, haben wir dann nicht auch das Recht, Leben absichtlich zu verkürzen oder zu verändern? Sind die beiden Richtungen, wie in menschliches Leben eingegriffen werden kann – also Leben zu erhalten oder den Tod herbeizuführen – gleichberechtigte Optionen?

Diese Gleichung geht nicht ohne Weiteres auf, wie ein einfaches Beispiel zeigt: Aus der Tatsache, dass eine Person einer anderen etwas schenken kann, folgt keineswegs automatisch die Berechtigung, einer anderen Person auch beliebig etwas nehmen zu können. Geben und nehmen werden unterschiedlich bewertet. Das gilt für Gegenstände ebenso wie für das menschliche Leben.

Der Denkfehler einer als liberal bezeichneten Selbstbestimmung besteht in der vollständigen Isolation des einzelnen Menschen. Dass Menschen nicht aus sich selbst heraus und für sich allein existieren, wird gänzlich ausgeblendet. Ein recht verstandenes Freiheitsverständnis weiss dagegen um die wesentliche Sozialität des menschlichen Lebens. Deshalb gehören die Freiheit der Person und der Schutz von Leib und Leben untrennbar zusammen. Der wirkungsvolle Schutz des Lebens bildet die Voraussetzung für die Wahrnehmung der Freiheit der einzelnen Person. Deshalb dürfen beide Seiten der Selbstbestimmung nicht willkürlich auseinandergerissen werden. Selbstbestimmung setzt den Schutz von Leib und Leben voraus. Wird dieser Schutz relativiert oder aufgehoben, steht die Selbstbestimmung selbst auf dem Spiel.

Wie umgehen mit dem Suizidwunsch eines Menschen?
Der Tod eines nahen Angehörigen gehört zu den schmerzhaftesten Erfahrungen, die Menschen machen können. Daran ändert auch das Wissen darum nichts, dass sich der Mensch seinen Tod gewünscht hat. Wir beruhigen uns bei einem Suizid nicht damit, dass die suizidente Person ihren Tod offenbar gewollt und deshalb herbeigeführt hat. Im Gegenteil, wir erschrecken angesichts dieser Verzweiflungstat, wir blicken zurück, ob wir Anzeichen übersehen oder überhört haben, wir fragen uns, ob wir Möglichkeiten verpasst haben, welche die Person von ihrer Tat abgebracht hätte. Sich selbst das Leben zu nehmen ist keine Handlung, die uns unberührt oder einfach zur Tagesordnung übergehen lässt. Der Wunsch zu leben gilt nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Menschen in unserem Umfeld. Niemand wünscht den Tod eines Menschen, der ihm nahesteht.

Der Ausdruck «Suizidwunsch» verschleiert häufig, dass der Mensch sich viel weniger etwas wünscht, sondern an dem, was er hat und ist, verzweifelt. Sich einfach darauf zu berufen, dass es doch der Wunsch des Menschen ist, birgt die Gefahr, sich blind zu machen gegenüber der Verzweiflung, die ihn zu der Entscheidung getrieben hat. Wir haben den Suizidwunsch eines Menschen zu respektieren, wir stehen ihm aber nicht gleichgültig gegenüber. Denn dann wäre der Tod nichts anderes als eine gleichwertige Alternative zum Leben. Genau dies akzeptiert eine Gesellschaft zu Recht nicht, die sich entschieden für Suizidprävention einsetzt. Deshalb können wir den Suizidwunsch eines Menschen nicht bloss hinnehmen. Deshalb dürfen wir aber ebenso wenig einen suizidwilligen Menschen einfach physisch an der Ausführung der Tat hindern. Vielmehr sind wir gefordert, die Umstände zu verändern, die den Menschen zu dieser Entscheidung gedrängt haben. Die Antwort auf den Suizidwunsch eines Menschen ist eine doppelte: Respekt vor der Entscheidung und die Suche nach Hoffnungsschimmern, die so stark sind, dass sie in das Leben der suizidwilligen Person scheinen können.

Ist Palliative Care eine Alternative zur Suizidhilfe?
Palliative Care sucht nach Lebenswegen für die häufig schwierige und schmerzhafte letzte Krankheitsphase. Suizidhilfe bildet eine Option, wenn alle Möglichkeiten von Palliative Care die ausweglose Lage eines Menschen nicht mehr erreichen. Lange Zeit wurden Palliative Care und Suizidhilfe als Entweder-oder-Entscheidungen diskutiert: entweder Palliative Care, weil die Suizidhilfe überflüssig ist oder Suizidhilfe, weil Schmerzbekämpfung manchmal wirkungslos ist. Aber diese Konfrontation lässt sich nicht einfach zu einer Seite hin auflösen, weil keine der Seiten einen umfassenden Ersatz für die Gegenseite bieten. Beide Seiten geben vielmehr Antworten auf unterschiedliche Fragen. Suizidhilfe hat ihren Ort als letzte Option im Rahmen von Palliative Care. Palliative Care akzeptiert den Tod als Antwort auf das menschliche Leiden nur unter der Bedingung, dass alles versucht worden ist, Leiden und Sterben leben zu können. Angesichts der Tatsache, dass ein Sterbewunsch häufig mit der Angst vor Einsamkeit, Angewiesensein und Hilflosigkeit verbunden ist, bietet Palliative Care mit ihrem ganzheitlichen, sozial integrierten Ansatz ein wirksames Mittel gegen jene Bedrohung. Palliative Care ist deshalb nicht nur Schmerztherapie, sondern ein nachhaltiges Konzept gegen die Einsamkeit der Sterbenden. Weil der Tod immer nur die letzte Antwort sein darf, hat Palliative Care den Vorrang vor Suizidhilfe im Leben.

Sind die reformierten Kirchen gegen Suizidhilfe?
Regelmässig wird die Kritik an der organisierten Suizidhilfe mit dem Hinweis zurückgewiesen, es gehe dabei nur um die Verteidigung einer antiquierten kirchlichen Moral. Dieser Vorwurf wird gegen alle christlichen Konfessionen in gleicher Weise gerichtet. So entsteht ein verzerrtes Bild, das der Differenziertheit kirchlicher Positionen in keiner Weise entspricht. Es gehört zu den Grundeinsichten der reformierten Kirchen, sich nicht auf eine verordnete Einheitsmoral zurückzuziehen. Die Kirche hat kein Recht auf die Gewissensentscheidung der und des Einzelnen. Sie hat aber die Aufgabe, Christinnen und Christen daran zu erinnern, dass sie in ihrem Leben und in ihren Entscheidungen verantwortlich sind gegenüber Gott, der eigenen Person und den Mitmenschen. Verantwortlich leben bedeutet aus reformierter Sicht, diese drei Dimensionen weder zu ignorieren, noch beliebig auf die eine oder andere Perspektive zu verkürzen oder zu verabsolutieren. Selbstbestimmung gibt es nur vor dem Angesicht Gottes und in Beziehung zu den Mitmenschen. Damit wird die persönliche Freiheit nicht relativiert, sondern überhaupt erst in ein lebensfähiges Verhältnis gerückt.

Deshalb enthalten sich die reformierten Kirchen jeder Pauschalantwort auf die Frage nach der Suizidhilfe. Sie können und wollen die Entscheidung der einzelnen Menschen nicht vorwegnehmen. Sie wenden sich deshalb auch entschieden dagegen, wenn Menschen in ihren Entscheidungen gedrängt, manipuliert oder gezwungen werden: Sei es von einer Gesellschaft, die Leiden und Sterben keine Aufmerksamkeit und keinen Raum mehr zur Verfügung stellt, sei es von gesellschaftlichen Gruppen, die den Lebensschutz als überholte Moral denunzieren oder sei es von moralischen Überzeugungen, die Menschen den Rücken zukehren, weil sie an ihrem Leben verzweifelt sind und sterben wollen.


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