Leben in Würde und Sterben in Würde (Teil 2)

  31.12.2019 Kirche

Selbstbestimmtes Sterben wird in zunehmendem Mass zum Normalfall. Die einen – es werden immer mehr – wollen über das Ende ihres Lebens selbst bestimmen. Wie sollen wir damit umgehen? Ist das ein Zugewinn an Freiheit? Oder eine Überforderung?

Andere sprechen von Alternativen und reden von «palliativer Pflege». Was bedeutet das? Wie sieht eine solche Pflege aus?

In jedem Fall aber haben Sterben und Tod persönliche und rechtliche, spirituelle und soziale Folgen. Eine Veranstaltungsreihe, welche die reformierten Landeskirchen des Saanenlandes, die Altersheime Pfyffenegg und Maison Claudine Pereira sowie die Spitex Saanenland verantworten, diskutiert solche und ähnliche Fragen.

Auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund nimmt Stellung rund um das Thema «Lebensende». Nachstehend finden sich Auszüge aus einem Positionspapier.

BRUNO BADER

Was ist Suizidhilfe?
Suizidhilfe umfasst alle beratenden und assistierenden Tätigkeiten, die es einem Menschen ermöglichen, das eigene Leben zu beenden. Die Tötungshandlung selbst muss dabei in jedem Fall von der suizidwilligen Person selbst ausgeführt werden.

Sterbehilfeorganisationen gibt es in Grossbritannien und den USA bereits seit den Neunzigerjahren. Aber erst 30 Jahre später rückt die Frage nach einem selbstbestimmten Sterben in Würde in den Blick. Häufig bildeten spektakuläre Einzelfälle den Anstoss für nationale Vereinsgründungen, so in der Schweiz 1975 die Kontroverse um den Zürcher Arzt Urs Peter Haemmerli, der sich zur medizinischen Sterbehilfe bei Schwerstkranken – durch Nahrungsentzug – bekannt hatte. 1982 wurden Exit (Deutsche Schweiz) und 1998 Dignitas gegründet.

Was ist der Unterschied zwischen Sterbehilfe und Suizidhilfe?
Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Sterbe- und Suizidhilfe betrifft den Adressatenkreis. Sterbehilfe richtet sich an sterbende, Suizidhilfe an sterbewillige Menschen. Sterbende befinden sich in ihrer letzten Lebensphase. Entsprechend meint Sterbehilfe ein begleitendes Handeln im Sterben, das in den Sterbeprozess mit dem Ziel eingreift, diesen zu steuern, Leiden zu lindern und das Sterben – häufig – zu verkürzen.

Sterbewillige Menschen befinden sich nicht notwendig in der Sterbephase. In vielen Fällen werden sie erst durch Suizidhilfe zu Sterbenden. Nicht zwingend ihr körperlicher Zustand, sondern ihr Wunsch, das eigene Leben zu beenden, macht sie zu Sterbenden. Deshalb muss Suizidhilfe korrekt als Hilfe zum Sterben bezeichnet werden. Sterbehilfe reagiert auf den leiblichen Zustand einer Person, Suizidhilfe auf mentale Zustände (Wünsche, Willensbekundungen) einer Person. Die Willensäusserung eines Menschen kann schwerer wiegen als ihr leiblicher Zustand, während bei der Sterbehilfe das Vorliegen eines bestimmten leiblichen Zustandes (terminale Krankheitsphase) eine notwendige und unhintergehbare Bedingung für das ärztliche Handeln darstellt. Sterbehilfe verhält sich somit symptomatisch zu einem bestehenden leiblichen Zustand. Suizidhilfe kann dagegen darauf gerichtet sein, eine solche Situation überhaupt erst kausal hervorzubringen.

Warum organisierte Suizidhilfe?
Die Sterbe- und Suizidhilfediskussion stand am Anfang unter dem Eindruck der enormen medizinisch-technologischen Entwicklungen. Die fast grenzenlos erscheinenden Möglichkeiten, menschliches Leben zu erhalten und zu verlängern, wurden immer stärker als Ohnmacht der einzelnen Patientin und des einzelnen Patienten gegenüber einem riesigen, «unmenschlichen» Medizinapparat empfunden. Immer mehr scheint die Medizin in der Lage zu sein, den Menschen gegen seinen Willen und ungeachtet seines körperlichen Zustandes ans Leben zu fesseln.

Der anfängliche Einsatz von Exit für die aktive medizinische Sterbehilfe wurde bald zugunsten einer medizinkritischen Position aufgegeben: Das Recht auf Selbstbestimmung des einzelnen Menschen wurde nun gegen die medizinische Macht zur technischen Lebenserhaltung eingefordert. Die Ärztin ist nicht befugt, über das Leben des Patienten (paternalistisch) zu entscheiden. Sie hat vielmehr die Aufgabe, seine Entscheidungen zu respektieren und (advokatorisch) umzusetzen. Nicht das medizinisch Machbare, sondern der persönliche Willensentscheid sollen den Ausschlag geben bei Entscheidungen darüber, ob eine schwerkranke Person am Leben erhalten werden will oder nicht, oder ob sie aus eigener Kraft ihr Leben beenden will.

Heute hat sich die Situation grundlegend geändert: Die Selbstbestimmung und das Vorliegen der Zustimmung der behandelten Person gelten als oberste medizinischen Grundsätze. In Patientenverfügungen kann festgelegt werden, welche Behandlungen vorgenommen und welche Therapien nicht durchgeführt werden sollen. Zudem haben sich die Zielsetzungen der Medizin selbst gewandelt, wie die aktuelle Sensibilisierung für Palliative Care deutlich macht.

Was ist Palliative Care?
Palliative Care bemüht sich um die Selbstbefähigung von Schwerstkranken und Sterbenden zu einem sozial integrierten und eigenverantwortlichen Leben mit höchstmöglicher Lebensqualität. Diese Zielsetzung ist keine rein medizinische. Deshalb sind Palliative-Care-Konzepte grundsätzlich interdisziplinär angelegt: Verschiedene Fachkompetenzen etwa aus Medizin, Sozialarbeit, Psychologie, Therapie oder Seelsorge sind gefordert. Eine entscheidende Rolle spielt die Zusammenarbeit zwischen Berufsleuten und Laien (Freiwilligenarbeit). Palliative Care ist als komplexes, integratives Versorgungs-, Betreuungsund Sozialnetzwerk auf unterstützende gesundheits-, sozial- und finanzpolitische Strukturen angewiesen. Angesichts der demografischen Entwicklung und der prognostizierten Zunahme von Hochbetagten und Menschen mit chronisch-degenerativen Erkrankungen reagiert Palliative Care auf gesamtgesellschaftliche Herausforderungen.

Auch Palliative Care reagierte ursprünglich auf eine kaum mehr überschaubare Hochleistungsmedizin. Obwohl der Gedanke einer umfassenden, sozial integrierten und medizinisch vor allem symptomen-lindernd orientierten Betreuung bereits älter ist, gelten die Sterbehospizgründungen von Cicely Saunders in den Sechzigerjahren als Geburtsstunde von Palliative Care. Lange Zeit galt die palliative Begleitung von Sterbenden als Alternative zu einer kurativen Wiederherstellungsmedizin. Inzwischen hat das Bild der medizinischen Gegenspieler einem differenzierteren Verständnis Platz gemacht. Beide medizinischen Ausrichtungen stehen in einem wechselseitigen Ergänzungsverhältnis.

Worin besteht die moralische Herausforderung der Suizidhilfe?
Egal wie wir es nennen: Das Nehmen geborenen Lebens ist eine Form des Tötens. Keine andere Handlung wird moralisch so streng und kritisch beurteilt, wie die Tötung eines Menschen. Die moralische und ethische Herausforderung der Suizidhilfe zeigt sich bereits bei einem Blick in das Strafgesetzbuch. Art 115 StGB, der die Straffreiheit von Suizidhilfe feststellt, sofern sie nicht aus eigennützigen Motiven geschieht, befindet sich im Abschnitt über Tötungsdelikte zwischen Art. 111–114 StGB (vorsätzliche Tötung, Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen) und Art. 116–117 StGB (Kindstötung und fahrlässige Tötung). In der differenzierten strafrechtlichen Beurteilung von Tötungsdelikten spiegeln sich auch die jüdisch-christlichen Traditionen und Moralvorstellungen wider.

Dieser lange, moralische Konsens darf allein deshalb nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, weil wir unser Leben und unsere Sicherheit hier und heute der Geltung dieses ethischen und rechtlichen Prinzips verdanken. Auf den Schutz unseres Lebens können wir uns nur solange verlassen, wie jedes Töten grundsätzlich nur als genau definierte Ausnahme von der Regel (etwa zum Schutz und zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung durch die Polizei oder das Militär) erlaubt ist. Die Tötung eines Menschen darf weder in einer rechtlichen Grauzone verschwimmen, noch selbst zu einer neuen Regel werden.

Zugleich darf der konsequente Einsatz für den Lebensschutz nicht blind sein für Lebenslagen, in denen Moral und Recht an ihre Grenzen stossen. Es gibt Ausnahmesituationen, in denen es einem Menschen unerträglich schwer oder gar unmöglich wird, das eigene Leben auszuhalten. Dann helfen kein Gesetz und keine Moral durch die Verzweiflung. Solche Grenzsituationen verdienen unseren Respekt. Zugleich werfen sie die schwerwiegende Frage auf, ob und in wieweit diese Erfahrungen Rückwirkungen auf unsere grundlegenden rechtlichen und moralischen Überzeugungen haben sollen. Jede Forderung nach einer Lockerung des rechtlichen Tötungsverbots setzt eine gewissenhafte und sorgfältige Prüfung dessen voraus, was damit zugleich riskiert wird. Eine einfache Interessenpolitik, die ausschliesslich auf die eigenen Absichten schaut, ist unverantwortlich und fahrlässig.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote