In Murano beim avantgardischen Glaskünstler Aristide Najean

  24.12.2019 Nachbarschaft

Am 29. Dezember eröffnet der Glaskünstler Aristide Najean in Château-d’Oex eine neue Galerie. An der Gebäudefassade montierte Glasskulpturen in vielen Farben werden die Blicke auf sich ziehen. Wer ist Aristide Najean, und wie kommt ein Pariser Kunstmaler dazu, sich mit Glas zu beschäftigen? Ich habe den Künstler in seinem Atelier auf der Insel Murano bei Venedig besucht.

ÇETIN KÖKSAL
Es muss so um sechs Uhr früh sein, als ich einen Mitteilungston vom Natel höre. Dank der etwas enervierenden Föhnlage liege ich sowieso schon ein Weilchen wach im Bett, drehe mich von der einen auf die andere Seite und hoffe auf das baldige Signal des erlösenden Weckers. Auf dem Bildschirm des kleinen Wunderdings lese ich dann kurz und knapp: «Sitze im Zug, bin um 8.10 Uhr in Martigny und fahre mit euch nach Venedig, bis gleich, Sylvie.» Als wir dann am Bahnhof von Martigny eintreffen, kommt sie uns fröhlich strahlend mit einer vollen Tüte Croissants entgegen: «Wegproviant für die Fahrt und selbstgebackene Güezis habe ich auch noch dabei.» Es kann also losgehen und ich gebe meinen (Motor-)Pferden die Sporen in Richtung Grossem St. Bernhard. Wir rechnen mit ungefähr fünf Stunden Fahrzeit bis Venedig, je nach Mailänder Autobahnverkehr. Sylvie Plassnig ist die Ehefrau von Aristide Najean und hat sich spontan dazu entschieden, uns zu begleiten und ihren Mann in Murano zu überraschen. Sie wohnt mit der gemeinsamen Tochter in Château-d’Oex und unterstützt Aristide seit gut 20 Jahren tatkräftig auf seinem künstlerischen Werdegang.

Erde und Salz
Nach dem St.-Bernhard-Tunnel rückt die warme Frühherbstsonne das Aostatal ins beste Licht. Während wir an den erhabenen Burgen und der weitläufigen Berglandschaft Richtung Poebene brausen, frage ich Sylvie, wie es eigentlich dazu kam, dass ihr Aristide Künstler wurde. Ich erfahre, dass er im Paris der Sechzigerjahre mit zwei Geschwistern aufwuchs und die Freiheit erhielt, seine Kreativität seit frühester Kindheit auszuleben. Beispielsweise dispensierte ihn die Maman als Einziges der drei Kinder vom gemeinsamen Mittagessen, damit er seine ersten «Kunstwerke» aus Erde im Garten vollenden konnte. Voller Hingabe verschönerte er zudem mit dem Speisesalzstreuer den heimischen Balkon mit ausgefallenen Mustern. Als er neun Jahre alt war, verstarb sein Vater, der im französischen Militär diente und deshalb auch sehr oft abwesend war. Die plötzlich verwitwete Maman musste von da an alleine die Kinder grossziehen und sich durchs Leben kämpfen.

Klein-Aristide merkte bald einmal, dass er mit seinen farbenfrohen Kreationen seinem hart arbeitenden Mami eine grosse Freude bereiten konnte. So liess die starke Frau ihren «Sonnenschein» gewähren und freute sich über seine kindlichen Werke wie über einen bunten Blumenstrauss. Das hat den Künstler bis heute geprägt. Hauptmotivation für sein künstlerisches Schaffen ist das Freudebereiten. Aristide ist die Reaktion der Betrachter seiner Kunst wichtig, was man sofort spürt. «Siehst du, wie schön das Licht der Abendsonne das Glas des Leuchters funkeln lässt?», fragt er beispielsweise und prüft dabei genau beobachtend die Regungen im Gesicht seines Gegenübers. Erkennt er darin auch nur ein angedeutetes Lächeln oder staunende, ein klein wenig grössere Augen, lehnt er sich zufrieden zurück.

Von der Malerei zur Glaskunst
Während wir uns mittlerweile im Schritttempo durch den Mailänder Mittagsverkehr quälen, hat es sich Sylvie auf der Rückbank gemütlich gemacht. Ihren kompakten Rucksack als Kopfkissen benutzend, liegt sie friedlich da und holt ein wenig Schlaf nach. Vorher hat sie uns noch erzählt, wie Aristide nach Murano zur Glaskunst gefunden hat. Wie wir jetzt wissen, gehen die Anfänge seiner künstlerischen Entwicklung bis in die Kindheit zurück. Autodidaktisch lernte er fortwährend dazu, probierte aus, und wenn er neugierig auf etwas war, dann belegte er Kurse an den entsprechenden Institutionen. Bis heute hat der Kunstmaler Aristide über 5000 Bilder gemalt. Das «Problem» mit Gemälden jedoch kann irgendeinmal die fehlende Dimension sein. Neugierige, unentwegt nach vorne drängende Künstler, die auf keinen Fall in ihrem Prozess des Wachsens und Werdens stehenbleiben können, drängt es mit grosser Wahrscheinlichkeit einmal in die mehrdimensionale, die skulpturale Kunst.

An einem Diner in Paris erhält Aristide einen Kontakt in Murano. Dieser Zugang zu einem Meister auf der venezianischen Glas-Insel eröffnet ihm ungeahnte Möglichkeiten. Von da an pendelt er viele Jahre zwischen Paris und Murano, wo er nach und nach in die streng gehüteten Geheimnisse der Glaskunst eingeführt wird. Langsam gewinnt «il francese» – wie ihn alle auf der Insel nennen – das Vertrauen der Glas-Meister. Er lernt ihre unterschiedlichen Fähigkeiten und Spezialisierungen kennen, sodass er mit der Zeit genau weiss, wen er für was aufsuchen muss. Möchte er zum Beispiel ein Spiegelgemälde mit einem feuerroten Stierkopf als Hauptsujet anfertigen lassen, geht er für das rot gefärbte Glas zu Giancarlo, für den Spiegel zu Antonio und für den Glasschnitt zu Roberto.

Murano
Wir sind in Venedig angekommen, fahren nun mit dem Vaporetto vom Bahnhof ein Stück weit den Canal Grande hinauf und biegen links in einen Seitenkanal ab, der uns auf das Meer hinaus führt. Vorbei an kleineren und grösseren Inseln der Lagune geht es in Richtung Murano.

Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden alle Glasöfen aus Brandschutzgründen aus Venedig auf diese Insel verlagert. Ein mindestens so wichtiger Grund war aber die Abschottung und Geheimhaltung des Geheimnisses der Glasherstellung. Venedig verdankte seinen damaligen Reichtum zu einem wesentlichen Teil dieser bei über 1000 Grad erhitzten Mischung aus Sand, Kalk und Soda. Die gut bezahlten Glas-Meister durften zu dieser Zeit unter Androhung der Todesstrafe die Insel nicht verlassen.

Als unser Vaporetto anlegt, fällt mir auf, wie angenehm ruhig es auf Murano ist. Eben gerade noch hörte man am Bahnhof von Venedig ein Stimmenwirrwarr aus Italienisch, Amerikanisch, Chinesisch, Dänisch und weiteren Sprachen. Die Touristen kämpften sich mit ihren Koffern über Brücken und andere Hindernisse, während die routinierten Einheimischen ihnen geschickt auswichen und stoisch ihres Wegs gingen. Hier in Murano scheint das Leben gemächlicher zu fliessen. Viel weniger Menschen bevölkern die Insel und so schlendern wir entspannt dem Uferweg entlang zur Calle Odoardo.

Kathedrale als Atelier
An dieser unscheinbaren Seitengasse liegt die heutige Wirkungsstätte von Aristide. Durch ein verhältnismässig kleines Eingangstor gelangen wir auf ein grosszügig begrüntes Grundstück mit altem Baumbestand und – natürlich – Glasskulpturen. Vor uns steht ein beeindruckender Backsteinbau mit hohen, farbigen Fenstern – eine Kirche.

Aristide begrüsst uns herzlich und lässt uns eintreten. Doch anstatt sakraler Stille kommt uns eine Wärmewelle, begleitet von einem konstanten Wummern, entgegen. Verantwortlich dafür sind die mit Gas betriebenen Glasöfen, welche durchgehend laufen müssen. Von der hohen Decke hängen zum Teil riesige Glasleuchter herab, manchmal ganz in weiss, aber öfter in den buntesten Farben und immer spannend und ungewohnt geformt. Das Auge braucht bei jedem Werk seine Zeit, um die vielen Details und Nuancen erfassen zu können. Den gesamten «Kathedralen»- Boden hat Aristide bemalt und mittig im majestätischen Raum steht ein etwas verkleinertes Modell eines Kirchenaltars. Das beeindruckende Werk soll dereinst 5,6 Meter lang, 4,3 Meter hoch und 6,5 Meter tief werden und aus 130 m² Glas bestehen.

Aristide führt uns durch die Manufaktur und erklärt uns die verschiedenen Arbeitsschritte. Wir erfahren dabei, dass die Glasmasse über mehrere Stunden bei 1200 Grad geschmolzen wird, bevor sie dann flüssig geformt werden kann. Nach ein paar Sekunden kühlt das Glas aber ab und erhärtet sich, so dass es wiederum erhitzt werden muss. Dieses Erhitzen, Formen, wiederum Erhitzen wird unzählige Male wiederholt, bis die gewünschte Figur fertig ist. Anschliessend muss sie zwei Tage lang in einem Brennofen langsam abgekühlt werden, damit das Glas nicht zerspringt. Zwei Glas-Meister und zwei Auszubildende arbeiten in der Glasherstellung. Ein Angestellter ist für den nächsten Arbeitsschritt, das Zuschneiden, verantwortlich und ein weiterer für die Verkabelung und Montage. Um die Administration kümmert sich Marta. In der Rolle des besorgten Unternehmers erwähnt Aristide die hohen Fixkosten, die er bewältigen muss. «Allein die Gasrechnung beträgt jeden Monat 6000 Euro.»

Bevor er die «Kathedrale» 2015 übernehmen konnte, hatte er bereits fünf Jahre ein eigenes Atelier. Als er es gründete, blieben die Aufträge zuerst aus, was die Nerven von Sylvie und Aristide dann doch etwas strapazierte. Mitten im Ferienmonat August kam dann aber der befreiende Anruf einer Kundin, die gleich acht Leuchter bestellte. Das Unternehmen Najean ist seither gewachsen und der Künstler arbeitete unter anderen mit den Architekten Jean-Michel Wilmotte und Philippe Starck zusammen.

Als wir dann aber nach einem langen Tag, reich an neuen Eindrücken, am Esstisch der Najeans sitzen und den herrlich von Aristide zubereiteten Fisch auf der Zunge zergehen lassen, ist unser Gastgeber wieder ganz Künstler: «Ist das Funkeln dieses Leuchters in der Abendsonne nicht einfach nur magisch?»


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