Der Rettungsschirm aus Psalm 91 und das Kirchenasyl

  31.01.2020 Kirche

Die meisten erinnern sich sicher noch gut an die Krise in Griechenland vor zehn Jahren. Anfang des Jahres 2010 verschlechterte sich die Finanzlage Griechenlands so stark, dass Zahlungsunfähigkeit drohte. So beschlossen die Mitgliedstaaten der EU über Griechenland den Rettungsschirm aufzuspannen. Damit versuchte die EU auch die finanzielle Stabilität im gesamten EU-Raum zu sichern. Neben allen Eigeninteressen will die EU jedem Mitgliedstaat in der Not Hilfe zukommen lassen. Doch trotz der aufgewendeten Milliarden fühlten sich die Griechen von der EU erpresst. Es schien ihnen eher, als ob sie im Regen stehen gelassen worden wären. Anders ist das mit dem biblischen Rettungsschirm von Psalm 91: «Wer unter dem Schirm des Höchsten wohnt, wer im Schatten des Allmächtigen ruht, der darf sprechen zum Heiligen: ‹Meine Zuflucht, meine Feste, mein Gott, auf den ich vertraue!›» Der Psalmschreiber von Psalm 91 setzt hier der Lebenserfahrung vieler Menschen, die ihr Leben von unzähligen Gefahren und Ungerechtigkeiten bedroht sehen, die Überzeugung entgegen, dass es einen Ort der rettenden Zuflucht gibt, inmitten des verschlingenden Ozeans. An diesem Ort ist Jahwe Schutz, Burg und Schatten. Dieser Ort ist dem Zugriff der Welt entzogen. Es ist ein heiliger Raum mit göttlichen Rechten. Wer sich in diesen Raum flüchtet, der ist im Hause Gottes erst einmal gerettet und beschützt. Diese Vorstellungen und Bilder sind den Städten entnommen, die auf der Bergeshöhe sicher und ummauert stehen, im Gegensatz zu den Menschen, die ungeschützt in Dörfern oder alleinstehenden Häusern wohnen. Der Psalmenschreiber vergleicht also den Rettungsschirm Gottes mit einer festen Burg auf dem Berg. Doch mit dem Rettungsschirm ist noch etwas anderes gemeint.

In alten biblischen Zeiten kannten fast alle Kulturen heilige Orte, sei es den Tempel, ein Götterbild, einen Altar oder auch eine heilige Person, zu der man sich flüchten konnte. Der Gott, der zu diesem Ort gehörte, garantierte jeder Person, den Tätern und den Opfern, vorläufige Sicherheit, Schutz und Asyl. Diese kulturelle Errungenschaft der Menschheit war keine Eigenart von Israel. Wir finden diese Einrichtung auch in anderen frühen Kulturen. In der Bibel finden wir einige Hinweise, die uns Sinn und Zweck solcher Einrichtungen erschliessen. Im 5. Buch Moses 4,41–43 und im Buch Josua 20 lesen wir, dass Moses drei Städte jenseits vom Jordan ausgesondert hat, später Josua zusätzlich drei weiter Zonen bestimmt, wo Totschläger, das heisst Menschen, die unbeabsichtigt jemanden getötet hatten, weiterleben konnten. Sie wurden zwar aus ihrer Sippe ausgeschlossen, durften jedoch zumindest in diesen ausgesonderten Zonen weiterexistieren. Im 1. Buch Samuel flüchtet sich der junge David vor König Saul zum Propheten Samuel nach Rama, wo er vor der Verfolgung des Königs Schutz findet. Saul verfolgt zwar David, doch alle, die dem Propheten Samuel zu nahe kommen, werden durch den Heiligen Geist verwandelt. Sie geraten wie in eine Ekstase und vergessen, warum sie hierhergekommen sind. Diese Praxis, dass sich Angeklagte, rechtmässig Verurteilte oder einfach Verfolgte in den Tempel oder zu anderen heiligen Orten flüchten konnten, hat sich bis in unsere Zeit hinein im sogenannten «Kirchenasyl» erhalten. Für unser heutiges Kirchenasyl ist jedoch eher mehr die Praxis im antiken Griechenland und im Römischen Reich von Bedeutung. Auch dort galt, dass jeder, der Schutz suchte, sich in den Tempel, zu einem Götterbild oder zu einer heiligen Feuerstelle flüchten konnte. Mit zunehmender Christianisierung im Römischen Reich wurde diese Praxis auf die Kirchen übertragen. Verfolgte flüchteten nun zum Bischof oder in kirchliche Gebäude und fanden dort Asyl und Unterstützung. Dieses Kirchenasyl, das sich bis heute bei uns in Resten erhalten hat, schlägt regelmässig hohe Wellen. Jedes Mal, wenn abgewiesene Asylsuchende sich vor ihrer drohenden Ausschaffung in einen Kirchenraum flüchten oder sich von einer kirchlichen Person verstecken lassen, fängt die Diskussion über Recht und Unrecht des Kirchenasyls von Neuem an. So im Fall von Pfarrer Josef Karber, der von 2011 bis 2018 eine krebskranke Migrantin in der Notwohnung seiner Pfarrei versteckte, obwohl die Frau keine Aufenthaltsbewilligung hatte. Dank seiner Hilfe wurde die Frau in der Schweiz geheilt. Hier stellte der Priester das Wohl eines Menschen über das Gesetz. Dass ihn die Zürcher Justiz dafür im Sommer 2019 zu einer bedingten Busse in Höhe von mehreren Tausend Franken verurteilt hat, ist der Preis, den Karber in Kauf nimmt. Die Bischofskonferenz (SBK) betont, es gehöre zum Grundauftrag der Kirchen, Menschen in Not zu helfen. Sie beruft sich dabei auf das Kirchenasyl: «Die Aufgabe der Kirche erschöpfe sich nicht in der Befolgung des Gesetzes», schreibt sie. Obwohl auch bei reformierten Pfarrpersonen hin und wieder Flüchtende versteckt werden, hat die reformierte Kirche Schweiz im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche das Kirchenasyl gegenüber dem Staat nie verteidigt. Trotzdem hat sich auch bei uns das Wissen erhalten, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Das heisst, die Überzeugung, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer deckungsgleich sind und wir für Menschen, die sich zu uns flüchten, verantwortlich sind und es immer Gott ist, der das letzte Urteil über einen Menschen spricht, ist in jeder religiösen Gemeinschaft erhalten geblieben.

In einer etwas anderen Form hat eine Gruppe mit einer Aktion am letzten Dreikönigstag auf die Diskrepanz zwischen der Forderung des Evangeliums und der Flüchtlingspolitik in Deutschland aufmerksam gemacht. Sie entwendete in verschiedenen Kirchen zwei der drei Könige, den König aus Asien und den König aus Afrika, aus den Krippen. An ihrer Stelle lag ein Blatt Papier, worauf geschrieben stand, dass die Abschottungspolitik der EU verhindert habe, dass die beiden Könige das neugeborene Kind Jesus von Nazareth begrüssen konnten. Die Könige würden im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos festgehalten. Mit der Aktion sollte die Lagerunterbringung der Asylsuchenden neu in die gesellschaftliche Diskussion eingebracht werden. Inzwischen wurden die beiden Könige wieder in die Kirchen zurückgebracht, aus denen sie entwendet worden waren.

KORNELIA FRITZ


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