An eine bessere Welt glauben

  07.01.2020 Leserbeitrag

Fortsetzung des Interviews von Anna T. Farran mit Guisela Gurtner, Ehefrau von Stefan Gurtner und Co-Leiterin des bolivianischen Projekts Tres Soles (1. Folge siehe AvS vom 3. Dezember 2019).

Guisela Gurtner, wie gestalten Sie Ihre Arbeit und woher kommen die finanziellen Mittel?
Tres Soles funktioniert als Aufnahmestelle mit familiärem Ambiente. Unser Ziel ist es, dass «unsere» Kinder ihre Ausbildung abschliessen und sie als nützliche Mitglieder in die Gesellschaft zurückkehren. Die Unterstützung endet also nicht mit dem Erreichen der Volljährigkeit, sondern wird bis zu einer erreichten Berufsausbildung weitergeführt. Was die finanziellen Mittel betrifft, muss man die wertvolle Unterstützung unterstreichen, die wir von vielen Menschen, die ebenfalls an eine bessere Welt glauben, erhalten. Es sind Spender, die sich in einer Kirchengemeinde in Deutschland organisiert haben und die uns von Anfang an unterstützten. Auch in der Schweiz, wo mein Mann herkommt, gibt es unermüdliche Helfer. So konnten wir das Projekt Schritt für Schritt aufbauen und zu dem Punkt gelangen, an dem wir uns heute befinden. Ebenso erhalten wir einige Stipendien für die Berufsausbildung von der Fundación Maite Iglesias, ausserdem gibt es einige Freunde in Sant Cugat del Vallès (Barcelona), die mithelfen, aber der grösste Teil der Geldmittel kommt aus Deutschland und der Schweiz. Aus Deutschland kommen auch jährlich zwei Freiwillige. Dazu zähle ich auch Gertraud Friedrich, eine 79-jährige Freiwillige, die Gold wert ist. Sie ist meine Heldin genau wie meine Mutter.

Was ist das Härteste an Ihrer Arbeit?
Sich die furchtbaren Geschichten vorzustellen, welche diese Kinder erleben mussten, beginnend meistens schon mit einer sehr schwierigen Zeit im Mutterleib. Opfer von so viel Lieb- und Verantwortungslosigkeit in so frühem Alter zu sein, hinterlässt unverwischbare Spuren in ihnen. Was man auch unternimmt, diese Erlebnisse machen sie zu dem, was sie sind.

Erzählen Sie mir eine Anekdote, eine Situation oder einen Moment, der Sie besonders beeindruckt hat und den Sie nie wieder vergessen werden.
Ich trage in meinem Herzen Teo. Schon als er klein war, half er überall mit, war sehr verantwortungsbewusst. Ich erkannte schon früh in seinem lebendigen Blick die Kraft, die Beharrlichkeit und die Anstrengung, die er bereit war, auf sich zu nehmen, um seine Ziele zu erreichen. Als er heiratete, benahm er sich wie ein beispielhafter Sohn. Heute ist er ein vorbildlicher Vater, hat eine stabile Familie und ist pädagogischer Leiter eines Berufsbildungsinstituts. Einmal kam eines «meiner» Kinder zu mir und bat mich, ihm die Hose zu flicken, die zerrissen war. Ich sagte ihm, dass ich gerade Besuch und im Moment keine Zeit hätte. Sofort sagte Teo: «Komm, mein Freund, ich erledige das …» Das hat mich sehr glücklich gemacht. Für solche Augenblicke lebe ich, darum habe ich gesagt, dass ich so viel von ihnen erhalte.

Sie fühlen also, dass diese Kinder Ihr Lebensinhalt sind?
Sie sind mein Leben, sie haben meiner Existenz einen Sinn gegeben. Sie haben meinem Leben in jedem Moment Farbe und Würze gegeben. Es erfüllt mich sehr, das Leben von so vielen jungen Menschen begleitet zu haben: Faustina, Silvia, Patricia, Sonja, Gladys und meine «Söhne» – die meisten von ihnen heute schon erwachsen –, das werden immer Braulio, José, el Osito, el Bautista und Wilmer bleiben … Sie haben ihren Weg gefunden, sie haben sich angestrengt, um ihre eigenen Kinder glücklich zu machen. Es sind Menschen, die meine Bewunderung verdienen, auf die ich super stolz bin, genauso wie auf Stefanie und Isabel, meine leiblichen Töchter, die mir immer viel Verständnis entgegengebracht haben.

* * *

«Ojo Morado» (Blaues Auge), eine Theatergruppe als erzieherischer  Grundpfeiler
Ein Projekt wie Tres Soles und das dazugehörende Studenten- und Lehrlingsheim Luis Espinal verdienen es, aus dem Schatten zu treten und Anerkennung zu finden, vor allem in Spanien. Vor über 30 Jahren kam ein «Verrückter» namens Stefan Gurtner nach Bolivien, um in einer Armenküche in La Paz Strassenkinder und andere sozial benachteiligte Menschen zu betreuen. Diese Armenküche wurde von der deutschen Kirchengemeinde St. Konrad unterstützt. Er kam als Freiwilliger, aber er blieb und zog mit den Kindern in ein halb verfallenes Haus, um mit ihnen eine Wohngemeinschaft aufzubauen. Als die Kirchengemeinde St. Konrad von Stefan Gurtners Unternehmen erfuhr, entschied sie, zusammen mit mehreren deutschen Familien, das Projekt zu unterstützen. So wurde die Kinderund Jugendwohngemeinschaft Tres Soles gegründet. Sobald sie konnten, bauten sie zusammen ein Haus, das heute alle Bedingungen erfüllt, den Kindern ein würdiges Leben zu ermöglichen: Zimmer für Jungen und Mädchen, Esszimmer, Spielräume, verschiedene Werkstätten, ein Spielplatz und einen Garten, in dem sie ihr eigenes Gemüse anbauen. Die Jungen und Mädchen nehmen an einem Selbstverwaltungsprogramm teil, das ihr Zusammenleben regelt. Heute kümmert sich Guisela um die Leitung und Stefan vor allem um die Erziehung durch Kunst und Theater, mit denen er versucht, das für das Leben nötige Bewusstsein und kritische Denkvermögen zu fördern. «Das Theater hat viele erzieherische Inhalte wie Lesen und Schreiben. Es fördert aber auch die Konsensfähigkeit und das Selbstbewusstsein, das gerade für diese Jugendlichen so wichtig ist», kommentiert Stefan.

Die Theatergruppe «Ojo Morado», wie sie von ihren Mitgliedern getauft wurde, hat verschiedene Preise gewonnen und mehrere Tourneen durch Deutschland und die Schweiz unternommen. Ausser dass diese Aktivitäten vielen Jugendlichen geholfen haben, ihre Traumata zu überwinden, muss auch erwähnt werden, dass aus dem Projekt Menschen hervorgegangen sind, die ihren Platz in der Gesellschaft, eine Familie gefunden haben und verantwortungsbewusste Väter und Mütter geworden sind.

PD

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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