Kranich mit Stein

  17.01.2020 Kultur

Es ist schon bald ein Jahr her, dass in einer Tageszeitung ein Bericht über eine Jahresversammlung der Dorforganisation Saanen erschienen ist, in dem es darum ging, dass das «Saaner Wappentier – die Saanengeiss» mehr Präsenz haben sollte. Auf der Matte vor dem Maison Claudine Pereira könnte man doch lebende Geissen halten, statt nur als Figuren im Verkehrskreisel vor dem Dorf. Die Idee ist nicht schlecht, dachte ich, aber die Saanengeiss als Wappentier? Das musste doch wohl ein Missverständnis des Journalisten sein.

Durch einen Zufall ging mir das jetzt wieder durch den Kopf. Nach wie vor ist ja – wie wir alle wissen – «Die Kryen uff dem bergen», wie es in alten Schriften heisst, der Wappenvogel im Saanenland und saaneabwärts bis Gruyères und Bulle in fast allen Dörfern.

Als Wappenvogel wurde der Kranich auf ganz verschiedene Art dargestellt. Eine davon ist besonders interessant und in ganz Europa vereinzelt anzutreffen, bei uns im Beispiel am Giebel des Salzhüsi in Saanen. Sie zeigt den Vogel auf einem Bein stehend, mit dem anderen Fuss hält er einen Stein. Mir ist diese Darstellung aus Norddeutschland bekannt, vom Kranichhaus in Otterndorf, nahe der Elbmündung. Dort steht eben dieser «Vogel mit Stein» als grosse Skulptur auf dem Dach des Hauses. Am Gebäude ist eine Inschrift angebracht: Der Kranich hält den Stein, des Schlafs sich zu erwehren. Wer sich dem Schlaf ergibt, kommt nie zu Gut und Ehren. Diese Darstellung ist auch unter der Bezeichnung «Grus vigilans» seit dem Altertum bekannt und soll die Wachsamkeit der scheuen Vögel hervorheben, die dem Menschen in seinem Lebensraum sehr wohl bekannt ist. Die Samen, Urbekölkerung im nördlichen Skandinavien, sagen z.B., der Kranich habe auf jeder Feder ein Auge.

Diese Wachsamkeit ist auch für uns Naturfotografen eine echte Herausforderung, wenn man versucht, für ein Foto nah genug heranzukommen.

Ein Zitat von einem Naturkundler aus der Zeit um 200 v. Chr. ist uns überliefert: «Wenn sie ermüdet sind und irgendwo auf Land treffen, so ruhen die übrigen des nachts aus und schlafen; drei oder vier aber wachen auf die anderen und, um die Wache nicht zu verschlafen, stehen sie auf einem Beine und halten mit dem aufgehobenen Fusse einen Stein fest und vorsichtig mit den Klauen, damit, wenn ja der Schlaf sie beschleichen sollte, das Geräusch des fallenden Steins sie aufwecke!»

Dieses Verhalten hat der griechische Gelehrte Aristoteles im 3. Jahrhundert v. Chr. schon als unwahr bezeichnet. Aber der Kranich mit Stein oder «Grus vigilans» hat sich als Sinnbild für Vorsicht und Wachsamkeit über Jahrhunderte bie heute erhalten, auch wenn den Vögeln dabei zu viel Intelligenz angedichtet wurde.

Neben der Darstellung am Salzhüsi hier in Saanen findet man in der Kirche Rougemont eine farbige Wappenscheibe und am Hôtel de Ville in Rossinière ein Wirtshausschild mit Darstellungen des «Grus vigilans».

HELMUTH GEHLKEN

Quelle: Die historischen Angaben fand ich in den Büchern «Kraniche» vom Kranichschutz Deutschland und der Lufthansa und «Kraniche, Vögel des Glücks» des deutschen Kranikforschers K.A. von Treuenfels. Beide Bücher sind auch in unserer Bibliothek im Kirchgemeindehaus zu finden.


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