Die Geschichte von Carolina (Januar 2020)

  07.02.2020 Leserbeitrag

Carolina, die jüngere Schwester von Braulio, erlebte als Sechsjährige, wie ihre Mutter von ihrem Vater zu Tode geprügelt wurde. Carolina kam nie darüber hinweg. Als sie zu Tres Soles kam, gab sie sich zwar Mühe, fröhlich zu sein, hatte aber immer wieder lange, depressive Phasen, in denen sie stundenlang weinen konnte, tonnenweise essen und an ihre Mutter denken musste. Seltsamerweise begann sie schon bald bei einem älteren Jungen, der von genauso düsterem Gemüt und gewalttätig wie ihr Vater war, Halt und Trost zu suchen. Er hiess Jorge und war ein ehemaliger Bewohner von Tres Soles, der eine Schlosserlehre gemacht hatte und nun in der Nachbarschaft lebte. Bereits in Tres Soles hatte er Alkoholprobleme gehabt, die er auch später nicht überwinden konnte. Er misshandelte ständig die Schwächsten und Kleinsten unserer Wohngemeinschaft. «Das ist doch Carolinas Problem, wenn sie mich trotzdem liebt», sagte er einmal, als wir ihn zur Rede stellten.

«Das Problem ist, dass du weit über 20 bist und Carolina minderjährig», erwiderte Guisela, die sich immer, wenn es schwierig wurde, um die Probleme kümmern musste. «Wir sind für Carolina verantwortlich. Wenn ihr etwas passiert, bekommen wir grosse Schwierigkeiten mit dem Jugendamt …»

Jorge tat so, als würde er uns verstehen, aber wir wussten, dass er weiterhin am Schulausgang auf sie wartete und sie auch bei anderen Gelegenheiten abfing. Carolina wehrte sich nicht dagegen, im Gegenteil, denn sie wurde von den anderen Jungen nur als «die Dicke» abgetan. Tres Soles ist ein offenes Projekt, im wörtlichen Sinn, ohne Mauern, hinter denen die Kinder und Jugendlichen eingesperrt werden. Lange Zeit gab es um das Haus nicht einmal eine Umfassungsmauer – das hat sich heute geändert. Die Gründe hierfür sind jedoch ganz andere. So drang Jorge eines Nachts völlig betrunken in unseren Hof ein und machte einen Skandal. «Ich liebe Carolina! Carolina soll sofort aus ihrem Zimmer kommen!», schrie er ununterbrochen. «Ich soll mich davonscheren? Niemand kann mir verbieten, Carolina zu lieben!»

Der Nachtbetreuer und einige ältere Jungen schafften es schliesslich, ihn zurück auf die Strasse zu befördern. Fürchterliche Drohungen ausstossend torkelte er davon. Das ging nun auch Carolina zu weit. Zusammen mit Guisela gingen sie zur Polizei und erstatteten Anzeige. Jorge musste auf dem Polizeiposten erscheinen. Es war für uns eine schwierige Situation und wir taten es nur äusserst ungern, denn schliesslich war Jorge ein «Solesianer» und «Solesianer» bleibt man für immer. In diesem Fall ging der Schutz eines minderjährigen Mädchens logischerweise vor. «So, du glaubst also, dass dir niemand verbieten kann, Carolina zu lieben?», fragte ihn der Polizist.

«Soll mir erst einmal jemand das Gesetzbuch zeigen, in dem das geschrieben steht», erwiderte Jorge trotzig und warf einen hasserfüllten Blick auf Guisela. «Nein, wir können dir nicht verbieten, Carolina zu lieben, aber wir können dir verbieten, sie zu belästigen. Schliesslich ist sie noch ein Kind», erklärte ihm der Polizist. Jorge musste ein Dokument unterschreiben, in dem er versprach, dass er sich Carolina nicht mehr annähern würde. Längere Zeit hielt er sich daran, aber eines Abends lauerte er ihr auf, als sie aus der Schule kam. Carolina ging auf eine Sonderschule, da sie in der regulären Tagesschule nicht mitkam. Sie war nun 15 oder 16 Jahre alt und hatte sich zu einem bildhübschen Mädchen, wenn auch noch etwas kräftig für ihr Alter, entwickelt. Jorge war betrunken und wurde handgreiflich, als ihm Carolina erklärte, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle und er verschwinden solle. Sie hatte sich in einen anderen Jungen verliebt. Zwar war dieser auch älter als sie, aber wenigstens trank er nicht so viel wie Jorge. Carolina brachte von ihrer letzten Begegnung mit Jorge ein blaues Auge mit nach Hause. Wieder musste Guisela Carolina zur Polizei begleiten, um Anzeige zu erstatten. Jorge wurde festgenommen und musste in einer Ausnüchterungszelle 24 Stunden Arrest absitzen. Er war tief gekränkt, liess Carolina allerdings von dem Zeitpunkt an in Ruhe, aber er wiegelte die ganze Nachbarschaft gegen uns auf und behauptete, dass er nur das Resultat unserer miserablen Erziehungsarbeit sei. Leider hörten wir das nicht zum ersten Mal und immer dann, wenn es jemandem nicht so erging, wie er es sich erwünscht hatte. Glücklicherweise zog Jorge bald aus dem Viertel weg und wir hörten nichts mehr von ihm. Carolina hatte inzwischen nicht gerade eine Lehre begonnen, aber doch mehrere Kochkurse besucht. Die Arbeit in der Küche von Tres Soles machte ihr Freude und sie setzte dort alle praktischen Arbeiten, die sie in ihren Kursen gelernt hatte, um. Leider wurde Carolina immer wieder durch die Probleme mit ihren Liebhabern vom Lernen abgelenkt. Gewalttätigkeiten war sie allerdings nun nicht mehr hilflos ausgesetzt. Durch die körperlich teilweise recht schwere Arbeit in der Küche war sie immer kräftiger geworden und konnte es mit jedem Jungen aufnehmen. Sie spielte ausserdem in einem Mädchenfussballteam, wo sie so heftig gegen Ball und Beine drosch, dass sie bald im ganzen Viertel als «Pferdefuss» bekannt wurde. Eines Tages brannte sie mit Roberto, ihrer neuesten Eroberung, durch. Sie verschwand einfach, ohne auch nur ein Dankeschön oder ein Adieu zu hinterlassen. Braulio, ihr älterer Bruder, der ihr die ganzen Jahre unermüdlich gut zugeredet hatte, doch in die Schule zu gehen und eine richtige Ausbildung zu machen, war erbittert. Auch Guisela und ich waren enttäuscht, denn immerhin hatten wir mehr als zehn Jahre mit ihr gearbeitet, aber wir hatten schon zu viel erlebt und waren dadurch in gewisser Weise abgehärtet. Wir mussten begreifen, dass dies nun mal unsere Arbeit war und wir solche Ereignisse nicht persönlich nehmen durften.

Manchmal war es jedoch schon recht schwer, gegen vier Fronten kämpfen zu müssen: gegen die Verhaltensweisen der Jugendlichen, gegen oft unkreative und passive Betreuer, gegen die Vorurteile der Nachbarn und gegen die Angriffe des Jugendamtes. Später hörten wir, dass Carolina schwanger und mit Roberto als Schwarzarbeiterin nach Argentinien gegangen war.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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