«Ich hatte eigentlich nie schlaflose Nächte, ausser wenn es um wirklich anspruchsvolle Personalentscheide ging»

  20.03.2020 Interview

Armando Chissalé leitete die Geschicke der Gemeindeverwaltung während zwölf Jahren. Ende Februar ging er in Pension. Im Interview sagt er, weshalb er so gerne in der Gemeinde Saanen arbeitete. Er erklärt, dass es eine grosse Herausforderung bleibt, neue Fachkräfte ins Saanenland zu holen und die Gemeinde deshalb neue Wege geht.

BLANCA BURRI

Kirsch oder Saanensenf?
Weder noch, obwohl ich lange im Baselbiet gelebt habe.

Stadt oder Land?
Eher Land.

Sport oder Kultur?
Obwohl ich auch Sport treibe eindeutig
Kultur.

Sie gehen auf Reisen. Was ist geplant?
Meine Frau und ich haben keine Kinder, keine Eltern mehr und keine Geschwister. Wegen dieser Unabhängigkeit haben wir abgemacht, dass wir jedes Jahr immer ein paar Monate in einer anderen Stadt leben wollen. Uns führt es also in diesem ersten Jahr nach Wien. Dort wollen wir ins Leben eintauchen und Teil davon werden.

Weshalb diese Strategie?
Bei zweiwöchigen Ferien klappert man einfach die Sehenswürdigkeiten ab. Wir aber möchten den Puls der Stadt und ihrer Bevölkerung fühlen. Bei den alltäglichen Tätigkeiten wie Einkaufen oder Müllentsorgen findet der Austausch mit den Nachbarn statt. Dann spürt man die Feinheiten im Charakter eines Quartiers oder einer Stadt.

Haben Sie einen Bezug zu Wien?
Ja, meine Frau hat einen Teil ihrer Kindheit dort verbracht. Wir werden etwas ausserhalb des Stadtkerns leben, damit meine Frau die Stadt geniessen kann und für mich das Land nicht zu weit weg ist. Danach reisen wir zurück nach Schönried, wo wir wohnen.

Was werden Sie nach der Pension vermissen?
(Überlegt) Den Austausch mit einer grossen Spannweite von Leuten. Berufsbedingt hatte ich mit vielen, sehr verschiedenen Menschen zu ganz unterschiedlichen Themen Gespräche. Das war sehr spannend. Andere Ideen, andere Ansichten. Ich freue mich aber darüber, dass ich jetzt die Zeitung lesen kann und sie nicht wie bisher nur überfliege. Ich freue mich auch darüber, mich mit neuen Themen auseinanderzusetzen. In ein Loch werde ich auf jeden Fall nicht fallen, da ich einen regen Austausch mit Kollegen pflege und sonst sehr aktiv unterwegs bin.

Werden Sie sich in der Region engagieren?
Das kann ich mir gut vorstellen. Ich würde mich über den Austausch, den es dadurch gibt, freuen.

Was werden Sie nach der Pension nicht vermissen?
(Überlegt einen Moment) Die Personalführung. Ja, die Personalführung werde ich ganz bestimmt nicht vermissen. In den letzten zwölf Jahren hatte ich viel Glück mit den Mitarbeitern. Trotzdem sind und bleiben Entscheide, die Mitarbeiter betreffen, immer sehr schwierig. Ich hatte eigentlich nie schlaflose Nächte, ausser wenn es um wirklich anspruchsvolle Personalentscheide ging. Wenn man sich für oder gegen eine Kündigung entscheiden muss, geht das unter die Haut. Es betrifft Menschen und ihre Familien grundlegend. Das werde ich bestimmt nicht vermissen (lacht erleichtert), denn das zehrt.

Wie attraktiv ist die Gemeinde als Arbeitgeber?
Wenn ich es aus meiner Warte aus anschaue, sehr! Ich habe eine Banklehre gemacht, danach ein Studium abgeschlossen, beim Kanton gearbeitet und dann auf einer Gemeinde. Bevor ich nach Saanen kam, hatte ich noch einmal eine Stelle beim Kanton inne und später bei einer Gemeinde. Vor meinem letzten Wechsel war für mich klar, dass ich wieder auf eine Gemeinde wollte. Die Aufgaben sind dort nämlich sehr vielfältig und öffnen ein sehr breites Spektrum. Viele Jobs werden bald Routine. Bei einer Gemeinde wie Saanen gibt es das nicht. Natürlich kommt es auf den Aufgabenbereich an, aber die meisten Stellen sind extrem abwechslungsreich.

Was genau war so spannend?
Es gab viele neue Situationen, die ich einschätzen musste und das machte meinen Job interessant – und so sind die meisten Stellen auf der Gemeinde. Deshalb finde ich es sehr schade, dass viele potenzielle Stellensucher sich nicht bewusst sind, wie attraktiv die Gemeinde Saanen ist.

Auch auf der Einwohnerkontrolle?
Ja, unbedingt, dort geht die Post ab. Man hat die Möglichkeit, seine Sprachkenntnisse anzuwenden, die vertieften Fähigkeiten bezüglich Aufenthaltsbewilligung einzusetzen und so weiter.

Der Fachkräftemangel im Saanenland ist signifikant. Lange Zeit auch auf der Gemeinde. Hat sich das geändert?
Nein. Alle Betriebe im Saanenland haben Mühe, Fachkräfte zu motivieren, ins Saanenland zu ziehen. Oftmals sucht man Leute mit Erfahrungen. Das heisst aber, dass sie in einem Alter sind, in dem sie gegebenenfalls bereits Kinder haben, die sie nicht aus dem Kontext reissen möchten. Auch die Eltern engagieren sich bereits in einem Verein und sind in der Wohnumgebung integriert. Es ist ein grosser Schritt, das alles zurückzulassen und ins Saanenland zu ziehen.

In welchem Alter ändert sich das wieder?
Viele unserer neuen Mitarbeitenden in Führungspositionen sind über 50 Jahre alt, weil sie dann wieder unabhängig sind. Das heisst aber auch, dass sie nach einer im Verhältnis kurzen Zeit pensioniert werden. Das stellt die Kontinuität infrage.

Welche kreativen Lösungen findet die Gemeinde, um dem entgegenzuwirken?
Die Gemeinde bildet viele Mitarbeitenden weiter. Auch wenn das bedeutet, dass einige von ihnen auf dem Papier für die Stelle überqualifiziert sind, ist uns das recht. Wie wir alle wissen, sind die Strukturen im Saanenland sehr breitgefächert und komplex, deshalb ist ein grosses Wissen wichtig. Dass mein Nachfolger Thomas Bollmann jung ist, hat grosses Potenzial. Über meine Nachfolgeregelung bin ich sehr glücklich.

In ein paar Jahren stehen weitere Pensionierungen von Abteilungsleitern an. Ist die Nachfolge aufgegleist?
Ja. Der Generationenwechsel ist auf gutem Weg. Intern haben sich Leute weitergebildet, welche die Stellen übernehmen können. Wir werden die Strukturen zudem etwas optimieren, damit die Stellvertretungen noch besser geregelt sind als bisher. Aber ja, grundsätzlich ist es sehr schwierig, Fachkräfte zu finden. Mein Nachfolger wird das noch oft beschäftigen.

Was ist mit Einheimischen, die studieren? Kehren sie nach dem Studium zurück?
Selten. Es kommt darauf an, ob es in diesem spezifischen Beruf überhaupt eine Stelle gibt. Wer einmal weg war, kommt selten wieder. Diese Erfahrung machte ich oft.

Wie sieht es bei den Lernenden aus?
Genau gleich wie bei den Fachkräften. Früher hatten wir mehr als zehn Bewerbungen für eine Stelle. Wenn wir heute zwei haben, ist das viel. Das heisst aber noch lange nicht, dass sich einer der Kandidaten für die Lehrstelle eignet.

Welchen Auftrag hat die Gemeinde, sozial schwache Personen zu integrieren?
Einen ganz klaren. Wir bieten Menschen mit Unterstützungsbedarf Arbeit. So stärken wir ihr Selbstwertgefühl und integrieren sie in die Gesellschaft. Das gibt einen spannenden Austausch. Zum Beispiel beschäftigen wir momentan eine junge Frau, welche eine Praktikerlehre in der Administration absolviert hat. In der Regel arbeitet sie in der Alpenruhe, einmal pro Woche aber hilft sie bei uns. Weil dadurch Hemmschwellen zu Beeinträchtigten abgebaut werden, ist sie eine Bereicherung für unser Team, auch wenn der Aufwand für uns als Arbeitgeber recht hoch ist.

Wie gross ist der politische Handlungsspielraum eines Verwaltungsdirektors?
Überhaupt nicht gross! Zu seinen Aufgaben gehört das Führen der Gemeindeverwaltung und das Unterstützen des Gemeinderates. Inwiefern der Gemeinderat die Vorschläge des Verwaltungsdirektors übernimmt, ist sehr offen. Nicht der Verwaltungsdirektor, sondern die neun Gemeinderäte entscheiden.

Wenn die Argumentation des Verwaltungsdirektors Hand und Fuss hat und die Mehrheit der Gemeinderäte von der Argumentation überzeugt ist, dann kann man sagen, dass sein politischer Einfluss sehr gross ist. Aber es kann nicht das Ziel des Verwaltungsdirektors sein, Politik zu machen. Dagegen habe ich mich immer gewehrt. Trotzdem wird uns oft unterstellt, dass der Einfluss zu gross sei. Ich denke, es kommt immer auf den Themenbereich an. Wo die Fachkompetenz der Gemeinderäte hoch ist, braucht es weniger Beratung. Zum Beispiel ist der Unterstützungsbedarf bei Landwirtschaftsthemen klein. Bei anderen sehr komplexen Themen ist das Fachwissen unserer Fachstellen gefragt.

Sind die Geschäftsleitungsmitglieder bei allen Gemeinderatssitzungen dabei?
Ich habe jeweils das Protokoll geführt, deshalb war ich immer dabei. Aber die anderen sind nur bei spezifischen Themen oder bei reglementarischen Entscheiden dabei.

Welche Rolle hatten Sie konkret bei der Zweitwohnungsinitiative?
Eine Gemeinde vollzieht übergeordnetes Recht, deshalb hat die Gemeinde keinen direkten Einfluss nehmen können. Vor der Volksabstimmung aber haben wir uns als Gemeinde natürlich gewehrt. Der damalige Gemeindepräsident Aldo Kropf und ich haben den rollenden Prozess ständig analysiert und uns überlegt, wie wir vorgehen können. Natürlich hat das ganze Team an der Sache gearbeitet. Zum Beispiel für die Vorbereitungen zum Besuch bei der Fernsehsendung «Arena».

War dieser Prozess einfach oder schwierig?
Die Führungsunterstützung bei der Zweitwohnungsinitiative war sehr schwierig, denn es ging ja um einen Verfassungsartikel. Man wusste nicht, wie das Parlament bei einer allfälligen Annahme das Gesetz formulieren würde. Dieser Prozess und die Diskussionen waren anspruchsvoll, weil es viele Meinungen und Ansichten gab und sich die Diskussion ständig den neuen Entwicklungen anpasste. Wir mussten uns immer überlegen, ob das Gesagte zutreffen könnte, mussten werten und bewerten und den Standpunkt neu definieren.

Hatten Sie nach der Gesetzesausarbeitung das Gefühl, die Anliegen der Gemeinde seien bei einem Punkt eingeflossen?
Nein. Natürlich haben wir die Parlamentarier angeschrieben, aber diese werden mit solchen Schreiben überflutet. Und natürlich haben wir mit unserem Nationalrat Erich von Siebenthal zusammengearbeitet. Aber sind wir ehrlich, unser Einfluss war minimal.

Wenn die Legislatur wie im kommenden Herbst ändert, was bedeutet das für den Verwaltungsdirektor?
Es kommt darauf an, wie viele Gemeinderäte und Kommissionsmitglieder wechseln. Im kommenden Herbst werden mindestens vier Gemeinderäte wegen Amtszeitbeschränkung abtreten, was für uns viel Arbeit bedeutet. Das heisst im Vorfeld, dass die laufenden Geschäfte möglichst abgeschlossen werden, damit sich die neuen Gemeinderäte nicht in ein weit fortgeschrittenes Geschäft einlesen müssen. Auch aus diesem Grund gibt es in der jetzigen Phase oft Priorisierungen der Geschäfte. Sind die Gemeinderäte einmal gewählt, fängt die Schulung betreffend fachlichem Wissen und rechtlichem Rahmen an. Wichtig ist, dass das alles sehr effizient erfolgt, weil die Geschäfte weiterlaufen und die Gemeinde ohne Unterbruch geführt werden muss.

Was ist mit der menschlichen Komponente?
Natürlich müssen wir jeweils voneinander lernen, wie das Gegenüber tickt.

Spürt man einen Strategiewechsel, wenn der Gemeindepräsident wechselt?
Leider ist sein Handlungsspielraum sehr eingeschränkt. Grund dafür sind viele Sachzwänge. Von der Rechtskette her sind wir nach Bund und Kanton am Schluss. Wenn wir vom Kanton einen Auftrag erhalten, müssen wir ihn ausführen, ob wir wollen oder nicht. Natürlich ist der Führungsstil jedes Gemeindepräsidenten anders. Es kommt auch darauf an, welche Aufgaben er daneben noch hat. Bei jedem der vier Gemeindepräsidenten, die ich erlebt habe, war es anders.

Sie waren 2008 der erste Verwaltungsdirektor in Saanen. Mussten Sie sich Ihre Position erkämpfen?
Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil. Mit meinem Stellvertreter Markus Iseli hatte ich es von Beginn weg sehr gut. Wir schätzen uns gegenseitig und ergänzen uns sehr gut.

Haben sich der Aufgabenbereich und die Kompetenzen inzwischen verändert?
Der Aufgabenbereich verändert sich dauernd, nicht nur für den Verwaltungsdirektor, sondern für die ganze Gemeinde. Das rechtliche Umfeld ist im ständigen Wandel. Auch die Aufgaben, die der Kanton auf die Gemeinden überträgt, werden ständig angepasst. Auch die Gesellschaft entwickelt sich ständig. Ihre Ansprüche und Anforderungen wechseln.

Zum Beispiel?
Die Digitalisierung ist ein typisches Thema. Für eine Bevölkerungsschicht ist die Digitalisierung ein absolutes Muss, andere wären überfordert, wenn wir nur noch elektronisch kommunizieren würden. Deshalb machen wir dauernd eine Gratwanderung. Dabei sein, aber nicht alles auf eine Karte setzen. Es ist ein dauernder Prozess der Veränderung, der unseren Job so herausfordernd und deshalb so interessant macht.

Saanen ist extrem finanzstark, ist das Bürde oder Segen?
Teils, teils. Es werden enorme Ansprüche gestellt, weil wir Geld haben, aber wir müssen einen grossen Spagat machen zwischen sinnvollen Investitionen und sinnvollem Schuldenabbau. Das heisst, wir investieren nicht gerne in Sachen, die unsere Gemeinde über viele Jahre stark beansprucht, denn wir wissen ja nicht, wie lange es unserer Gemeinde finanziell so gut geht.

Welche Herausforderungen werden die Gemeinde kurz- und mittelfristig beschäftigen?
Das Gesundheitswesen. Als ich vor zwölf Jahren ins Saanenland kam, wollte man in Saanenmöser ein neues Spital bauen. Seit ich hier bin, sind wir an der Arbeit und eine Lösung ist noch nicht bereit. Auch der Klimawandel wird die Gemeinde mit Bestimmtheit beschäftigen. Die Digitalisierung wird uns weiter auf Trab halten.

Welchen Entscheid, den Sie als Verwaltungsdirektor gefällt haben, haben Sie bereut?
Keinen. Zwar hat sich nicht alles so entwickelt, wie ich es mir gewünscht hätte, aber bereut habe ich keinen Entscheid. Meine Entscheide basierten immer auf dem Wissen, das ich hatte, als ich sie gefällt habe. Ich bin ein eher risikofreudiger Mensch und so verhalf ich vielen Sachen zu Flügeln, andere entwickelten sich schlechter, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber in die Hosen ging deshalb kein Projekt. Wer als Verwaltungsdirektor zu grosse Fehlentscheidungen trifft, ist nicht lange auf dem Posten.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich für das Saanenland wünschen?
(Langes Schweigen) Eigentlich nur, dass das Saanenland die anstehenden Veränderungen mit Würde managed: Klimawandel, Digitalisierung, Altersund Gesundheitspolitik. Es steht so viel an, dass es keine Luxuslösungen geben kann. Ich hoffe, dass das Saanenland pragmatische Lösungen findet, welche die Grundbedürfnisse decken. Alles andere kann es sich nicht leisten.

Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview wurde vor den einschneidenden Massnahmen wegen des Coronavirus geführt.


ZUR PERSON

Armando Chissalé (65 Jahre) ist in Olten geboren und aufgewachsen. Nach der kaufmännischen Ausbildung auf einer Bank absolvierte er in Basel die Berufsmatura. Daraufhin folgten das Jurastudium und der Wechsel in die Justiz-, Polizei- und Militärdirektion des Kantons Basel-Landschaft in Liestal. In Pratteln folgte 1999 die Anstellung als Gemeindeverwalter. Von 2003 bis 2007 war er Dienststellenleiter und Notar auf der Bezirksschreiberei Liestal. Seit 2008 bis zu seiner Pensionierung Ende Februar hatte er das Amt des Verwaltungsdirektors der Gemeinde Saanen inne. Nebenamtlich war er als Experte und Lehrer in den Bereichen Sprachen, Notariat, Personen-, Familien- und Gesellschaftsrecht tätig, in den letzten fünf Jahren als Präsident der Prüfungskommission für die Fach- und Diplomausbildung des bernischen Gemeindepersonals.

 


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