Der Gemüse- und Obstgarten von Tres Soles

  03.03.2020 Leserbeitrag

Mit der heutigen Bolivienspalte kehre ich wieder zu der Vorstellung der einzelnen Aktivitäten in unserem Projekt zurück. Als wir nach Quillacollo umzogen, stand hinter dem von uns für die Wohngemeinschaft gebauten Haus eine Hütte aus Lehmziegeln, gedeckt mit rostigen Wellblechen, die nur mit Steinen beschwert waren. Ein löchriger Drahtzaun trennte die Hütte, in der ein altes, verhutzeltes Weiblein namens Erlinda wohnte, von unserer Wohngemeinschaft. Vor der Eingangstür hielt sie, an einen Pflock gebunden, eine magere Ziege. Bereits an einem der ersten Tage erschien sie in unserem Büro und stellte sich vor. Ein starker Alkoholgeruch ging von ihr aus. «Da wir nun Nachbarn sind, wollen wir von Anfang an die Dinge klarstellen», sagte sie etwas schleppend, wenn auch überraschend klar. Sie schien ihre knochigen Hände an ihrer schmutzigen Schürze abzutrocknen, obwohl sie gar nicht nass waren. Eine Zeit lang starrte sie uns mit ihren hervortretenden Augen erwartungsvoll an, während Guisela und ich fragend zurückblickten. «Bevor ihr hier eingezogen seid, ist hier nie etwas weggekommen. Wenn bei mir etwas verschwindet, komme ich direkt zu euch und stelle es euch in Rechnung.»

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass man uns, wie vorher schon in El Alto, auch in Quillacollo bei unserem Eintreffen mit Vorurteilen begegnete. Als wir damals am frühen Morgen des jetzt schon fernen ersten Februar 1999 mit dem Bus aus El Alto eintrafen, wartete schon ein Landjäger auf uns. «In der Nacht ist in der Schule eingebrochen worden und man hat die Kasse gestohlen», sagte er. «Es ist anzunehmen, dass die Täter aus eurer Wohngemeinschaft stammen.»
«Wir sind erst gerade jetzt im Augenblick mit dem Bus angekommen, folglich können wir das unmöglich gewesen sein», erwiderte Lucio, der gerade mit dem Psychologiestudium begonnen hatte.

«Könnt ihr das beweisen?»
«Natürlich können wir das! Hier sind unsere Fahrkarten ...»

Unsere neue Nachbarin Erlinda machte übrigens ihre Drohung schon nach wenigen Tagen wahr. «Euer Hund ist heute bei mir eingedrungen und hat meine Suppe aufgefressen», erklärte sie mit ihrer schleppenden Stimme und rückte die Wollmütze, die sie auch bei der grössten Hitze über den strähnigen Haaren trug, zurecht. In den Händen trug sie einen leeren Topf. «Die Suppe kostet fünf Pesos.»

«Aber wie kann es sein, dass der Hund …?», fragte Guisela ungläubig.

«Ich koche die Suppe immer auf einer Feuerstelle im Hof und lasse sie dann ein wenig abkühlen.»

Guisela gab ihr seufzend die fünf Pesos, denn wir waren nicht daran interessiert, noch weitere Probleme mit den Nachbarn zu bekommen. Erlinda erschien nun jedoch mindestens jeden zweiten Tag. Mit der Zeit war es nicht mehr der Hund, der ihre Suppe frass, sondern es waren angeblich unsere Jungs und sie liessen auch noch andere Sachen mitgehen. Eines Tages verschwand ihre Ziege. «Die kostet 50 Pesos», sagte sie, nach Alkohol stinkend, und streckte wie immer ihre knochige Hand aus. Es war die reinste Erpressung.

«Die Hexe hat die Ziege in der Nacht geschlachtet», flüsterte mir einer der Jungen ins Ohr. «Ich habs gesehen!»

«Was sagst du da, du Bengel?», fuhr Erlinda böse auf. Ich bedeutete dem Jungen, uns alleine zu lassen, gab der Frau die 50 Pesos und sagte ihr, dass wir ihr Grundstück kaufen wollten, denn wir hatten gerade eine ziemlich grosse Spende erhalten. Sie akzeptierte sofort und zog bald darauf aus. Wir rissen den Zaun und die Hütte innerhalb eines Tages vollständig ab. Erlinda kam noch einmal zurück, mitten in der Nacht und völlig betrunken. «Wo ist mein Haus?», schrie sie ausser sich. Sie sprach immer von ihrem «Haus». «Was habt ihr mit meinem Haus gemacht? Jetzt habt ihr mich auch noch um mein Haus betrogen!» Betrunken wie sie war, hatte sie vergessen, dass sie es uns verkauft hatte. Nach diesem Zwischenfall kam sie jedoch nie wieder zurück. Wahrscheinlich hat sie das gesamte Geld, das sie von uns erhalten hatte, in Alkohol umgesetzt und ist eines Tages an ihrem Alkoholkonsum verstorben. Auf ihrem kleinen Grundstück hingegen, das nun uns gehörte, entstanden jetzt der Gemüse- und Obstgarten der Wohngemeinschaft. Wir gruben tiefe Löcher, befüllten sie zunächst mit Gemüse- und Früchteschalen aus der Küche und pflanzten Apfel-, Pfirsich-, Feigen- und sogar Zitronen- und Mandarinenbäume ein. Im Gemüsegarten bauten wir bald Mais, Kartoffeln, Bohnen und alle möglichen Gemüsesorten an. Hier in Cochabamba, wo ein mildes Klima herrscht, gedeiht praktisch alles, obwohl es auf immerhin rund 2700 Metern Höhe liegt. Der Garten ist nicht allzu gross und dient ausschliesslich der Selbstversorgung. Es versteht sich von selbst, dass alles von Hand gemacht wird. In der ersten Wohngemeinschaft in El Alto hatten wir übrigens auch schon Gemüse angebaut, aber wegen der ständig herrschenden Kälte geschah dies in einem halb unterirdischen Gewächshaus, das wir eigenhändig ausgehoben hatten. Längere Zeit jedoch wurde es von einem rabiaten Psychologen genutzt, um darin drastische «Beschäftigungstherapie» zu betreiben, besonders was Jugendliche mit Alkoholproblemen betraf. Leider war es eher eine «Straftherapie» als eine «Beschäftigungstherapie» und das wollten wir nun mit der parallel dazu eingeführten Selbstverwaltung durch die Jugendlichen ändern. Keine der Aktivitäten von Tres Soles sollte Strafcharakter haben. Jede einzelne Aktivität sollte eine Zielsetzung haben und dem Jugendlichen in seiner Entwicklung nützlich sein. «Wir wollen gesundes Gemüse ohne Chemie auf dem Tisch zu essen haben», erklärte Margarita, die auch eine Zeitlang für den Gemüse- und Obstgarten verantwortlich war. «Wir betreiben Gruppenarbeit, weil wir uns integrieren und keine Individualisten sein wollen, weshalb die Arbeit im Garten am Wochenende auch eine Gemeinschaftsaufgabe ist, wo alle in der einen oder anderen Form mitmachen müssen.»

Margarita hatte vor kurzer Zeit ihr Abitur gemacht und eine Ausbildung als Betriebswirtin an der staatlichen Universität von Cochabamba begonnen. Sie war samt den Möbeln, die sie in der projekteigenen Schreinerei hergestellt hatte, in das Studenten- und Lehrlingsheim Luis Espinal umgezogen. Die Studenten und Lehrlinge, die dort wohnen, haben die Möglichkeit, neben den Stipendien, die sie erhalten, ihr Taschengeld aufzubessern, wenn sie bei den Aktivitäten von Tres Soles mitmachen. Margarita hatte langjährige Erfahrungen bei der Arbeit in unserem Gemüse- und Obstgarten gesammelt und war uns eine grosse Hilfe. Den Betreuern, die die Gartenarbeit immer noch als Strafe für Jugendliche, die gegen die Regeln verstiessen, benutzen wollten, trat sie protestierend und hochrot im Gesicht, einen grossen, breitrandigen Hut auf dem Kopf, entgegen: «Was denkt ihr euch nur? Was seid ihr für Erzieher? Die Gartenarbeit ist gesund und macht Spass! Wie kann sie da eine Strafe sein?»

Ja, Spass hatten die Kinder besonders in der Trockenzeit, wenn der Garten über einen kleinen Kanal bewässert wurde, denn dann tobten und spritzten sie alle mit dem Wasser herum und es ging im Garten besonders fröhlich zu.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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