Die persönliche Freiheit und ihre Probleme damit

  27.03.2020 Leserbeitrag

Sechs Jahre zeichnete Jürg Müller für den «Anzeiger von Saanen» für die Kolumne «Blick in die Welt» verantwortlich. Im Dezember 2019 ist seine letzte Kolumne erschienen.

Wir sind froh, haben wir mit Sebastian Dürst einen Nachfolger gefunden. Mit der Übernahme der Kolumne «Blick in die Welt» trete er ein grosses Erbe an, sagt Sebastian Dürst, aber es sei ihm vor allem auch eine Freude. In den Ferien reise er gerne und habe ein besonderes Faible für eher ausgefallene Destinationen. Und als gelernter Religionswissenschaftler interessierten ihn natürlich auch die Religionen der jeweiligen Destinationen sehr.

Sebastian Dürst ist Chef vom Dienst bei den «Glarner Nachrichten» und war zuvor Stagiaire bei unserer Partnerzeitung «Frutigländer».

Wir heissen Sebastien Dürst herzlich willkommen und freuen uns auf seinen monatlichen «Blick in die Welt».

REDAKTION «ANZEIGER VON SAANEN»


Es ist schon eine besondere Zeit, die wir im Moment erleben: Ein Virus legt zur selben Zeit die ganze Welt mehr oder weniger lahm. Das hat es in diesem Ausmass schon eine ganze Weile nicht mehr gegeben. Und egal, wie diese Krise für die Schweiz, Europa und die Welt endet, man kann jetzt schon Erstaunliches beobachten.

Mich fasziniert immer wieder, wie verschieden man in unterschiedlichen Teilen der Welt mit dem Coronavirus umgeht. Oder besser gesagt, wie man mit den behördlichen Anordnungen umgeht. In Südkorea zum Beispiel waren die Strassen schon zwei Tage vor dem Lockdown wie leergefegt. Die Bevölkerung hat den Entscheid der Regierung antizipiert und umgesetzt. Natürlich auch mit der Erfahrung einer Gesellschaft, die immer wieder Pandemien besiegen muss. Auffallend auch, dass in asiatischen Ländern auch die Gesichtsmasken weitverbreitet sind. Allerdings sind sie das auch in Zeiten ohne Coronavirus und auch bei Touristen, die zum Beispiel in der Schweiz reisen. In Notsituationen zeigt sich die Disziplin in asiatischen Gesellschaften besonders stark: Der Einzelne agiert völlig im Sinne des Ganzen, nimmt die Eigeninteressen sehr stark zurück.

In den USA kann man ein ganz anderes Phänomen beobachten, das mich mindestens so sehr fasziniert. Einerseits könnte man sich darüber lustig machen, dass in diesem Land die (riesigen) Einkaufszentren tatsächlich leergekauft werden. Und es dabei nicht nur beim WC-Papier bleibt. Das wirklich Faszinierende spielt sich aber meiner Meinung nach vor den Geschäften ab und bildet ab, wie die amerikanische Gesellschaft funktioniert. Egal, wie panisch die Leute sich mit allem Nötigen versorgen und sich auf mehr oder weniger unvernünftige Art und Weise schützen wollen: Den Gemeinsinn lassen sie dabei nie aus dem Sinn. Anders als es vielerorts dargestellt wird, haben viele US-Bewohner nämlich einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Zugegeben, der artet von Zeit zu Zeit ins Absurde aus. Aber in dieser Situation fand ich es beeindruckend: Die Leute kauften zwar die Läden leer, aber machten das in sehr geordneter Form. Hunderte von Metern stand ein Einkaufswagen hinter dem anderen in einer Reihe, damit die Leute einer nach dem anderen eingelassen werden können. In Notsituationen zeigt sich die ambivalente Gesellschaft der Amerikaner: Einerseits das starke Gerechtigkeitsempfinden und die Hilfsbereitschaft, andererseits aber auch die unreflektierten Affekthandlungen, für die sie in der ganzen Welt kritisiert werden.

Italien ist von der Pandemie stark gebeutelt. Das hat, ohne hier vorverurteilend sein zu wollen, wohl auch mit den politischen Querelen zu tun, die Italien seit bald Jahrzehnten erdulden muss. In Notsituationen zeigt sich aber auch, dass die Italiener leidensfähig sind und etwas kultivieren, das immer hilft: Sie haben auch in den dunkelsten Stunden Hoffnung und Lebensfreude, die ansteckend im besten Sinne ist. Und in der Schweiz? Bundesrat Alain Berset hat betont, dass die Schweizer Variante des Lockdowns eine sehr schweizerische Lösung sei. Er war darum an der Pressekonferenz auch zunehmend genervt, als er immer wieder gefragt wurde, was denn nun erlaubt sei und was nicht. Denn das Schweizerische an der Lösung ist die Selbstverantwortung: Der Bundesrat nimmt jeden Einzelnen von uns in die Verantwortung.

Das macht mich einerseits stolz, weil es nur konsequent ist, in einem Land mit dieser Demokratie so zu handeln. Beschneidungen der persönlichen Freiheit sind nämlich eine heikle Grenze, die in jedem Fall nur mit Samthandschuhen angegangen werden sollte.

In der Schweiz müssen wir nicht die besten Einkaufswagen-Reihen haben, wir müssen auch nicht die höchste Maskentragquote haben und die schönsten Lieder von den Balkonen singen. Aber ich erwarte, dass jeder fähig ist, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

SEBASTIAN DÜRST
[email protected]


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