Alles hat zwei Seiten, auch die Corona-Krise

  15.04.2020 Landwirtschaft

Dass sich die Corona-Krise stark auf die Landwirtschaft auswirkt, bekommt man aus dem Unterland immer wieder zu hören. Die Bauern im Saanenland sind aber nicht so hart betroffen, sind sie doch weniger auf den Absatz von Frischprodukten wie Obst und Gemüse angewiesen. Beim genauen Hinschauen zeichnen sich schon Probleme ab, auch wenn die landwirtschaftliche Bevölkerung, oder die Bevölkerung im Saanenland überhaupt, sich mehrheitlich als privilegiert bezeichnet.

VRENI MÜLLENER
«Manchmal komme ich mir vor wie in einem anderen Film», meint Willi Bach aus dem Rübeldorf. Selbstverständlich hätten sie ihre Stallvisiten sofort eingestellt. «Dafür haben die Spaziergänger, die ich schon oft habe vorübergehen sehen, plötzlich Zeit, innezuhalten und man kann mit ihnen gute Gespräche führen.» Im Allgemeinen seien die Gäste dankbar und geniessen die schöne Gegend.

Frühjahrsarbeiten ohne Probleme
Alle befragten Bäuerinnen und Bauern betonen, dass sie ihre anfallenden Arbeiten uneingeschränkt erledigen können. Auf dem Feld sei man ja oft allein und entspreche damit den Anforderungen, nicht in grösseren Gruppen unterwegs zu sein. Es sind eher die Zusatzverdienste (zum Beispiel in der Krankenpflege oder auf einer Baustelle), bei denen sich Bäuerinnen oder Bauern einem erhöhten Risiko aussetzen. Bei den Milchannahmestellen ist es meistens kein Problem, Distanz zu halten, da die Bauern gerne einen für sie idealen Liefermoment wählen, um nicht zu lange warten zu müssen.

Von Natur aus optimistisch, vielleicht auch realistisch, ist Urs von Siebenthal aus der Feutersoey. Er ist sich bewusst, dass andere Branchen und Familien stärker betroffen sind als diejenigen, die in der Landwirtschaft tätig sind. Gegenwärtig gäbe es für die Bauern keine Einschränkungen, der Milchabsatz sei kein Problem. Einzig, was mit dem Schlachtvieh passieren werde, sei ungewiss und könne einzelne Betriebe vor Probleme stellen. Es wird den Bauern geraten, keine Angstverkäufe zu tätigen. «Am meisten betroffen sind Bauern, die keine Milch abliefern, das Geld des ganzen Winters in Fresser* investieren und nicht an den Schlachtviehmarkt können, weil dieser verboten ist.» Aber Viehhalter, die nur auf eine Karte setzen, gäbe es je länger je weniger. Die Krise könnte für die schweizerische Landwirtschaft auch eine Chance sein, wenn die Menschen bewusst wieder regionaler einkaufen würden.

Viehhandel bricht ein
Weniger optimistisch tönt es im Gespräch mit einem Viehhändler. «Der Handel liegt am Boden», sinniert Simon Fuhrer aus der Feutersoey. «Bei den Schlachtkühen geht fast nichts, somit kann der Bauer nicht wie bisher eine wenig befriedigende Kuh absetzen und durch eine andere ersetzen.» Das habe jeweils den Handel belebt. Oft höre man Kritik, dass nach wie vor Fleisch importiert werde. «Die Importkontingente, die sich Fleischhändler an den Schlachtviehmärkten erhandelt haben, können nicht von heute auf morgen gestoppt werden», so Fuhrer. «Das sind auch wieder Geschäfte, mit denen jemand gerechnet hat.» Dass Fresser nicht rechtzeitig abgesetzt werden können, sei seine grosse Sorge. Wenn diese Tiere zu alt und zu schwer werden, gehe es um Bares für den Bauern, dabei blieben die Stallplätze besetzt. «Die Folge haben wir bereits, der Handel mit kleinen Munikälbern ist stark eingebrochen.» Laut Auskunft von Rolf von Siebenthal, Lauenen, bringt die Buure Metzg Mitte Mai in Zusammenarbeit mit der Landwirtschaftlichen Vereinigung und der IG Hotels das Produkt «Saanenland Kalbfleisch» auf den Markt. Dieses muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen und damit allen beteiligten Parteien einen Mehrwert bringen. Der vorgesehene öffentliche Publikumsanlass könne nicht durchgeführt werden, dennoch werde mit dem Angebot im Mai gestartet. Es wurde erstmals vom Einlagerungsangebot der Proviande Gebrauch gemacht, um keine angemeldeten Tiere annullieren zu müssen.

Was nach wie vor gut läuft, ist die private Direktvermarktung von einzelnen Tieren. Dies ist nur möglich, solange die kleinen Schlachthäuser gut instand gehalten werden und es auch einheimische Familien gibt, die bereit sind, hiesige Produkte, sei es von privaten Vermarktern oder aus dem Fachgeschäft, zu konsumieren. «Die Vermarktung in meinem Hoflädeli hat seit Corona stark zugenommen», freut sich Silvan Haldi. Mit dieser Erfahrung ist der Grunder nicht allein. «Die Kunden schätzen es zu wissen, woher die Produkte kommen.» Das motiviere natürlich, sich Gedanken zu machen, wie man das Angebot erweitern könne. «Die Vermarktung mit einzelnen Hotels hier in der Gegend ist vollständig zum Erliegen gekommen», so die ernüchternde Auskunft des Laueners Stephan Addor. Bauern, die Käselieferungen ins Unterland machen, profitieren von der zunehmenden Beliebtheit von Hof- und Bioläden in Stadtnähe.

Vermehrt Schweizer Alppersonal
Angestellte braucht es hierzulande vor allem im Sommer auf den Alpbetrieben. Erstaunlicherweise haben viele Landwirte für diesen Sommer Schweizer Personal eingestellt. Offenbar geht das «ringer» als noch vor ein paar Jahren. Diejenigen, die auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen sind, haben bereits Absagen bekommen. Etliche deutsche Waldorfschüler werden dieses Jahr keine Erfahrungen im Saanenland sammeln können, ihre Klassenfahrten und Praktika wurden schon früh annulliert. Auf der Plattform «z’ Alp» sind nach wie vor Arbeitsstellen und Arbeitssuchende aufgeschaltet. Laut Auskunft von Jörg Trachsel, Lauenen, sollte die Einreise von Europäern kein Problem sein, wenn die Bewilligungspapiere stimmen. Neuerdings wird bei Bauern wieder bezüglich Arbeit angefragt, was es seit den 90er-Jahren fast nicht mehr gegeben hat.

Unterstützung funktioniert
Bisher ist nicht bekannt, dass ein Bauer aus Krankheitsgründen länger ausgefallen ist. Falls dies eintreffen sollte, funktioniert meistens fürs Erste die familieninterne Unterstützung oder die Nachbarschaftshilfe. Wenn nötig, kann der Landwirtschaftliche Betriebshelferdienst Hilfseinsätze vermitteln. Erfahrene, meist Junglandwirte, sind dort angemeldet und kommen im Bedarfsfall zum Einsatz. Der Bauernstand ist allen Konsumenten dankbar, die nicht nur in der Krise regional denken und handeln. Dass die Wertschätzung, die gegenwärtig dem einheimischen Produkt entgegengebracht wird, die Corona-Krise überdauern wird und die schweizerische Landwirtschaft vom Image der Luft- und Wasserverschmutzer wegkommen kann, ist der weit verbreitete Wunsch nicht nur der Bauern im Saanenland.

*Fresser sind Kälber, oft männlich, die nicht für die Nachzucht verwendet werden können. Wenn sie über 120 Lebenstage haben, sind sie alt genug, um sich von Gras und Mais zu ernähren und dürfen an Mastbetriebe im Unterland verkauft werden.


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