Buddeln in Isolation

  17.04.2020 Serie

Praktisch alle Länder sind vom Coronavirus betroffen. Die einen stärker, die anderen schwächer. In loser Folge erzählen Personen aus aller Welt, wie sie die Situation in ihrer Heimat erleben. Heute mit Christine Bielecki, vielen Leserinnen und Lesern besser bekannt als Tine Eisenbeis. Sie war von 2009 bis 2013 Redaktorin beim «Anzeiger von Saanen» und lebt heute mit ihrer Familie in Kiel.

Am Tag, als wir davon erfuhren, dass Schulen, Kitas und kurze Zeit später auch der Rest des öffentlichen Lebens schliessen würden, war die Kita meiner Kinder bereits geschlossen. Nicht wegen Corona, sondern wegen einer Fortbildung der Erzieher. Ich hatte mich bereits am Vormittag mit einer Freundin verabredet; insgesamt haben wir sechs Kinder. Wir freuten uns über das für Kieler Verhältnisse schöne Wetter und genossen in vollen Zügen das Beisammensein. Die Kinder spielten friedlich im Garten. Ich saugte während dieses Treffens alles auf. Als hätte ich gewusst, was in den kommenden Wochen und Monaten wirklich auf uns zukommen würde. Um die Mittagszeit hatten wir eine leichte Ahnung. Aber eben nur eine Ahnung. Und es war absurd: Als könnten wir uns heute noch sicher sein, dass wir uns nicht gegenseitig anstecken – der Mann meiner Freundin ist Arzt im Krankenhaus – und ab dem nächsten Tag dann nicht mehr? Wie verrückt.

Routinen aus der Kita
Nun denn, als ich nach Hause kam, legte ich in der Wohnung vier Yogamatten aus. Für jedes Familienmitglied eine. Meine Kinder sind noch klein. Es ist nicht so, dass sie täglich Sonnengrüsse üben. Ich hatte einfach das Gefühl, dass uns Yoga in den nächsten Wochen ein wenig Halt geben könnte.

Ich habe mir Routinen aus der Kita abgeguckt und mache morgens einen Singkreis. Hinterher geht es meistens mal kurz auf die Yogamatte. Dabei darf es ruhig wild und albern zugehen. Mir geht es gar nicht darum, dass meine Kinder Yoga machen, sondern einerseits sehr eigennützig darum, dass ich auf der Matte ein kleines bisschen Spannung abbauen kann, wenn ich mich bewege, und andererseits will ich meinen Kindern vermitteln, dass die Yogamatte ein Zufluchtsort sein kann.

Ende März hätte ich in einem Fünfsternehotel in Tirol ein Yogaretreat halten sollen. Rückblickend ist es erstaunlich, wie schnell sich die Ereignisse in Deutschland – und dem Rest der Welt – in der zweiten Märzwoche überschlagen hatten: Dienstags hatte ich noch eine schlaflose Nacht beim Gedanken an eine elfstündige Zugfahrt von Kiel nach Tirol. Ich hatte ein schlechtes Gewissen dem Hotel gegenüber, weil ich an eine Absage dachte und ein schlechtes Gewissen meinem Umfeld gegenüber, wenn ich fahren sollte. Die Entscheidung wurde mir abgenommen: Nur vier Tage später mussten in Tirol alle Hotels schliessen.

Spielplatzpause
In Kiel wurden binnen 48 Stunden Restaurants, Boutiquen, Fitnessstudios, Spielplätze geschlossen. Gleichzeitig wurde es Frühling. Meine viereinhalbjährige Tochter lachte, als ich ihr erklärte, dass wir nicht nur eine Kita-Pause, sondern auch eine Spielplatzpause einlegen müssten. «Einen Spielplatz kann man doch nicht ‹zumachen›», sagte sie zu mir. Ich sagte: «Ich zeige es dir.» Wir spazierten zum nächstgelegenen Spielplatz. Absperrband verdeutlichte sogar einer Vierjährigen, dass man Spielplätze sehr wohl «zumachen» konnte. Zu Hause läuft es bei uns erstaunlich entspannt ab. Mein Mann arbeitet in einem Labor, das ist garantiert keimfreier als unser Zuhause. Daher hat sich für ihn nicht viel geändert, er meidet einfach den Kontakt zu Kollegen. Ich bin mir bewusst darüber, in einer privilegierten Lage zu sein, weil er weiter arbeiten kann. Meine Yogakurse finden zwar nicht statt, meine Arbeit als Schreiberin beschränkt sich auf die Stunden am Abend, wenn die Kinder schlafen, aber im Vergleich zu denjenigen, die nun vor einem wirtschaftlichen Desaster stehen, geht es uns natürlich gut. Meine grösste Sorge ist die um meine Eltern. Sie leben knapp 800 Kilometer von uns entfernt. Mein Vater ist in diesem Winter 80 geworden; ich weiss gerade nicht, ob ich meine Eltern in diesem Jahr noch sehen kann. Und dann ist da natürlich immer auch die Frage: Kann ich sie überhaupt noch sehen? Das Risiko, sich unterwegs zu infizieren und das Virus dann zu meinen Eltern zu bringen, wäre unverzeihlich. Ostern verbringen wir normalerweise traditionell bei ihnen im Garten.

Kontaktsperre
In Deutschland gibt es eine sogenannte Kontaktsperre. Es dürfen sich nicht mehr als zwei Menschen treffen, die nicht im selben Haushalt leben. Die Strände in Schleswig-Holstein sind verhältnismässig leer, keine Strandkörbe aufgestellt. Im Park sieht man ganz deutlich, was die Regierung uns erlaubt hat: Zweiergruppen oder Familien mit Kindern. Mit den Kindern laufe ich in den Park, manchmal fahren wir zum Strand. Am Wochenende gehe ich alleine joggen. Und zwei Mal in der Woche, montags und donnerstags, fährt mein Mann etwas später mit dem Fahrrad zur Arbeit, weil ich auf dem Wochenmarkt beim Biobauern unser Obst und Gemüse hole. Es ist erstaunlich, wie routiniert es dort abläuft. Die Menschen stehen in Abständen von zwei Metern zueinander in der Schlange, die Marktverkäufer packen alle gewünschten Waren in eine Kiste; ich packe sie von der Kiste in meine Taschen, bezahle am anderen Ende des Standes. Ich habe den Eindruck, es geht viel schneller als sonst, wenn Selbstbedienung ist. Wir nehmen die Kinder nicht mehr mit zum Einkaufen seit den Einschränkungen. Mein Mann organisiert die restlichen Einkäufe nach der Arbeit.

Meine älteste Tochter vermisst die Kita. Sie ist in ihrem jungen Leben bereits drei Mal umgezogen und hat drei verschiedene Kindergärten besucht. Ich hatte das Gefühl, jetzt war sie angekommen. Es hatte gerade eine Zeit begonnen, in der nicht mehr nur Erwachsene in ihrem Leben wichtig waren. Ich weiss nicht, ob Kinder unter sechs Jahren überhaupt verstehen, was gerade los ist. Ich erkläre es ihr ab und zu. Anfangs blickte sie mich strahlend an und sagte: «Aber Mama, ich bin doch gar nicht krank. Ich stecke niemanden an.» Tja, so war sie es gewöhnt: Wir blieben normalerweise zu Hause, wenn wir krank waren. Nun war sie gesund und sollte trotzdem zu Hause bleiben. Dass es sie beschäftigt, merke ich vor allen Dingen daran, dass sie nun öfter über Dinge spricht, die sie traurig machten. Kürzlich erzählte sie mir, sie vermisse den Hund meiner Mutter. Er ist im Sommer vor zwei Jahren gestorben, da war sie zweijährig

Ich bin mir bewusst, dass meine Kinder diese Krise nicht in Erinnerung behalten werden, so lange ich ihnen ein gut gelaunter Anker bin und viel Zeit mit ihnen verbringe. Und so lebe ich augenscheinlich in einer Blase aus «Bibi&Tina»-Hörspielen und Spielzeug auf dem Fussboden jeden Raumes. Anspannung spüre ich nur, wenn ich zu spät abends die Nachrichten lese oder Krankenhausberichte aus Italien.

Auch das ist Corona
In Kiel regnet es gefühlt immer. Seit dem 13. März hat es tagsüber nicht einmal geregnet. Ich bin mir nicht sicher, aber ich gehe davon aus, dass Sonne hilft. Auch wenn ich mich ein kleines bisschen um diesen Frühling betrogen fühle. Abends übe ich manchmal per Livestream mit den Yogalehrern Yoga, bei denen ich in Kalifornien meine Ausbildung absolvierte, während wir dort lebten. Für die Kalifornier ist das morgens, sie sind neun Stunden hinter uns. Wenn ich dann sehe, wie sich die Teilnehmerzahl auf über 100 schraubt, spüre ich ein einzigartiges Gefühl: Wann war ich zuletzt mit Menschen, die ich zum grossen Teil nicht kenne und die so weit weg leben, so eng verbunden? Am 27. März stelle ich, während ich die Küche aufräume, mein Handy auf die Arbeitsplatte und höre der Gstaaderin Sarah Iseli zu, die via Livestream ein Konzert gibt. Und zwei Wochen später kommt ein Anruf von AvS-Redakteurin Blanca Burri, die mich bittet, diesen Text zu schreiben. Auch das ist Corona. Ich komme wieder Menschen näher, die gerade relativ weit von mir weg leben. Kürzlich hatte ich im Magazin «Spiegel» treffende Worte gelesen: «Ironischerweise war ja der Traum vom reduzierten Leben zuletzt in Deutschland sehr en vogue.» Und so sehe ich das Positive in einer ziemlich irren Zeit: Weniger Flüge, keine riesigen Kreuzfahrtschiffe in Kiel, mehr Zeit mit der Familie, Entschleunigung. Und trotzdem bleibt da bei mir eine ganz grosse Frage: Was bleibt am Ende, ausser Wirtschaftschaos und viele Tote? Ändert sich unsere Einstellung? Konnte die Umwelt eigentlich aufatmen oder haben wir statt Kerosin und Kreuzfahrtschiff-Abgasen in dieser Zeit viel zu viel anderen Müll in die Luft geblasen? Muss ich mir in Zukunft Gedanken darüber machen, ob der Mundschutz zu meinen Kleidern passt? Oder ist es so, wie die jüdische Schriftstellerin Mirna Funk, die den Gaza-Krieg 2014 in Tel Aviv erlebt hat, schreibt: «Glaube nicht für eine Sekunde, dass eine solche Situation die Menschen grundlegend verändern wird» …

CHRISTINE BIELECKI


ZUR PERSON

Christine Bielecki lebte von 2009 bis 2013 in Zweisimmen und arbeitete vier Jahre als Redaktorin unter ihrem Mädchennamen Eisenbeis für den «Anzeiger von Saanen». Nach Stationen in Santa Barbara, Kopenhagen und Hamburg lebt sie seit Juni 2018 mit ihrer Familie in Kiel und arbeitet als freie Journalistin und Yogalehrerin.


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