Erinnerungen an Vico Rigassi

  17.04.2020 Serie

In unserer Reihe «Aus alter Zeit im Saanenland» erzählen Leser/innen Episoden – Geschichtliches, Erlebtes, Erinnerungen – aus früheren Zeiten.

Vico Rigassi, der begabteste Sportreporter in den Jahren des Krieges und später von 1946 bis 1976 im Dienst von Deutschweizer Radiosendern. Geboren in Stampa am 7. Dezember 1905, gestorben am 6. August 1983 in Maloja. Wer hat ihn damals nicht gekannt?

Ich war während des Krieges ein Schulmädchen in Gstaad. Es hatte noch Schnee, viel Schnee. Und oft mussten wir Schulkinder Skipisten für die kommenden Skirennen «trappen». Regelmässig wurden die schweizerischen Skirennen abgehalten und danach – gleich nach den Nachrichten um 12.30 Uhr – im Radio kommentiert. Und zwar oft von Vico Rigassi.

Ich kannte Vico damals nicht, wusste selbstverständlich, wer er war. Er liebte es, am Abend noch etwas nachzufeiern, oft waren die Radioleute in Panik, weil Vico um 12.00 Uhr zur Reportage nicht auf Platz war. Auch um Viertel nach Zwölf Uhr nicht. Er kam keuchend einige Minuten vor der Reportage ins Sendehäuschen, nahm das Mikrofon in die Hand und legte los. Dreisprachig, deutsch, französisch und italienisch. Seine Reportagen waren beliebt und interessant.

Später reportierte er die Velorennen in der Schweiz und so lernte ich ihn kennen. Mit meinem Mann nahmen wir an einem Abendessen in Bern teil, das zu Ehren von Ferdy Kübler gegeben wurde. Ferdy sass in der Mitte eines langen Tisches, eingerahmt von heissen Verehrern, Frauen waren fast keine dabei. Ferdy erzählte Geschichten. Ich sass weiter weg, neben Vico. Er hatte einen schweigsamen Abend, umso mehr langte er zum Glas.

Später sah ich ihn in Genf. Da sprach er mehr. Unser kleines Grüppchen müsse unbedingt «den besten Rohschingge vo Zentraleuropa» in Vicosoprano probieren. Wir machten mit ihm während den Sommerferien einen Termin im Restaurant in Maloja zu einer bestimmten Zeit ab. Vico wohnte mit seiner Familie damals bereits während seiner Freizeit in seinem Haus in diesem Ort. Der Tag kam und unser Grüpplein fuhr nach Maloja in besagtes Restaurant, wo wir ihn erwarteten. Kein Vico kam, das Warten wurde lang, aber um etwa 18 Uhr erschien sein Sohn Lelio mit der Nachricht, Vico sei noch unfähig, uns zu treffen. Er sei am Abend vorher in diesem Restaurant bis weit in die Nacht mit Kollegen gesessen, die alle keine Liebhaber des Blauen Kreuzes waren. In der Nacht sei er den kurvenreichen Weg zu seinem Haus hinaufgelaufen und habe den Inhalt seiner «Chutten-Tasche» verloren. Lelio wurde offenbar geweckt und suchte mit der Taschenlampe die Strecke ab, bis er gefunden hatte, was er suchte.

Man traf Vico erst am Abend des nächsten Tages, aber er wirkte auch dann noch keineswegs erfrischt. Er erholte sich aber in unserer Gesellschaft rasch und diesen Abend, ruhig und gesellig, werde ich nie vergessen.

Erst am nächsten Tag erlebten wir den besten «Rohschingge von Zentraleuropa» in einem unscheinbaren, kleinen – man kann nicht gerade sagen Restaurant, nein, es war eher ein Geheimtipp unter Kennern. Ein recht unscheinbares, man könnte fast sagen Bauernhaus, wo Hühner und Geissen herumliefen und nebenher an zwei, drei Tischen serviert wurde. Es war das letzte Mal, dass ich den liebenswerten Vico Rigassi lebend sah.

ROMI CLÉMENÇON, BERN

Wissen auch Sie noch Begebenheiten aus früheren Zeiten? Zögern Sie nicht, greifen Sie zur Feder und schreiben Sie uns: «Anzeiger von Saanen», Anita Moser, Redaktion, Kirchstrasse 6, 3780 Gstaad, oder per Mail: anita.moser@ anzeigervonsaanen.ch


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