Kann diese App Leben retten?

  21.04.2020 Coronavirus

Das Mobiltelefon hat man meist dabei. Dieses könnte eine Rolle dabei spielen, die Ansteckungsketten des Coronavirus zu unterbrechen. Entsprechende Software ist in Arbeit. Droht die dauerhafte Überwachung?

HANS RUDOLF SCHNEIDER
Viele von uns geben relativ bedenkenlos Daten an Unternehmen frei, wenn wir Apps auf unseren Mobiltelefonen installieren. Dies passiert meist freiwillig im Tausch gegen eine Gratis-Software oder Dienstleistung. Wie die Daten weiterverwendet werden, ist oft unklar – und wird dann in aufploppenden Werbebannern und unerwarteten Nachrichten auf dem Handy plötzlich sichtbar. Dass eine gewisse Skepsis gegenüber den App-Anbietern besteht, ist somit verständlich.

Doch genau mit der freiwilligen Freigabe von Daten soll in wenigen Tagen gegen die Weiterverbreitung des Coronoavirus angegangen werden. Und zwar in gigantischem Ausmass: Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing heisst das Projekt, kurz PEPP- PT. Auf dieser Software-Plattform können Staaten und Unternehmen eigene Programme entwickeln, die ausschliesslich dem erwähnten Ziel dienen. Mit diesen Apps sollen Infektionsketten unterbrochen werden, ohne dabei die Privatsphäre zu verletzen. Für Fachleute ist diese App auch ein Puzzlestein, um Isolationsmassnahmen schneller lockern zu können.

International funktionsfähig
Doch wie sollen Handys helfen? Ist die App auf dem Smartphone aktiviert, wird mittels Bluetooth und einer anonymen Identifikationsnummer der Kontakt mit anderen aktiven Handys im Umkreis gespeichert. So werden längere Kontakte mit Coronavirus-infizierten Personen sichtbar, wenn diese sich entsprechend registriert haben (siehe Kasten). Es erfolgt eine anonyme Warnung auf das Handy. Um den Anforderungen gerecht zu werden, sollen diese Apps auch bei künftigen Reisen über Staatsgrenzen hinaus funktionieren. Gerade auch für Grenzgänger muss die Software möglichst einfach funktionieren. Es ist also ein längerfristig angelegtes Projekt, das auch bei künftigen Risiken zum Einsatz kommen könnte. Die Kosten sind heute noch unklar, die Finanzierung ist via Spenden angedacht, um unabhängig von den Staaten zu sein.

Viele müssen mitmachen
Das Entwicklungsteam besteht aus mehr als 130 Fachleuten, die aus acht Ländern stammen. Mit dabei ist unter anderem die ETH Lausanne. Die Zürcher Firma Ubique beispielsweise ist kurz davor, eine entsprechende App auf der Basis dieser Plattform auszuliefern. Der genaue Zeitpunkt ist jedoch noch nicht klar. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist zudem noch zurückhaltend mit Empfehlungen und will die Zuverlässigkeit zuerst testen. Patrick Mathys vom BAG sagte diese Woche, diese Apps könnten ein Baustein der Virusbekämpfung sein, «sie sind aber mit Sicherheit kein Heilsbringer oder lösen alle Probleme».

Diese Art Warnsystem funktioniert natürlich nur, wenn sich eine beträchtliche Anzahl Personen beteiligt. Fachleute reden dabei von bis zu 60 Prozent der Bevölkerung, die für einen Erfolg mitmachen müssten. Dazu kommt, dass etliche Personen kein Smartphone besitzen, wohl vor allem in der aktuell gefährdeten Altersklasse. Für diese Leute könnten als Idee spezielle Bluetooth-Armbänder entwickelt werden.

Keine Echtzeitdaten
Datenschützer haben rasch ihre Bedenken angemeldet. Unter den Bedingungen, dass die Daten anonym gespeichert sind und die Software keine GPS-Daten mit den Standorten der Handybesitzer verwendet, sind die Einwände kleiner geworden. Die Kritik, so einen Überwachungsstaat zu etablieren, ist in der Schweiz leiser als anderswo. In Ländern wie China, Südkorea oder Israel ist dies jedoch nicht von der Hand zu weisen. In Polen wurde eine solche App für positiv getestete Personen als obligatorisch erklärt, um die Quarantäne zu überwachen. Das ist bei PEPP-PT explizit ausgeschlossen – und für die Funktionsfähigkeit auch nicht nötig. Auch die konkurrierenden IT-Giganten Apple und Google wollen in ihre mobilen Betriebssysteme iOS und Android anonyme Kontakt-Verfolgungssysteme integrieren. Dabei soll der Nutzer selbst entscheiden können, ob er diese Funktion aktivieren möchte.

Fakt ist, dass heute wie bei vielen Aspekten rund um Covid-19 niemand sagen kann, ob diese Apps ihren Zweck erfüllen werden. Theorie und Praxis sehen oftmals sehr unterschiedlich aus. Solche Projekte zeigen aber auch, wie schnell in Krisen gemeinsam neue Lösungsansätze gefunden und weiterentwickelt werden können.

Weitere Infos zum Projekt unter https://www. pepp-pt.org (Englisch)


MARCEL SALATHÉ NICHT MEHR DABEI

Am Projekt «Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing» (PEPP-PT) beteiligt war auch der Schweizer Epidemiologe Marcel Salathé von der ETH Lausanne (EPFL). Er hat das Projekt mit dem deutschen IT-Unternehmer Chris Boos und dem Computerwissenschafter Thomas Wiegand von der TU Berlin vorgestellt. Vor wenigen Tagen hat sich Salathé jedoch von dem Projekt verabschiedet. «Ich bin nicht mehr Teil von PEPP-PT. Ich weiss nicht mehr, wofür das Projekt eigentlich steht, und habe kein Vertrauen mehr in das, was passiert», wird Salathé im Gespräch mit der NZZ zitiert. Ihm fehle die Transparenz. Wie die NZZ weiter schreibt, dreht sich die Auseinandersetzung um zwei unterschiedliche technische Ansätze: einen zentralen und einen dezentralen Weg, Informationen zu verarbeiten. «Dahinter steht die Frage, ob die Information, wem ich wann auf meinen Wegen begegnet bin, nur auf meinem Handy gespeichert wird oder ob diese Information auf einem zentralen Server landet», schreibt die NZZ. «Ursprünglich sollte PEPP-PT ein neutrales Projekt sein, das beide Ansätze unterstützt. Doch nun ist das Team der ETH Zürich und der EPFL, das ein Protokoll für einen dezentralen Weg erarbeitet, von der offiziellen Website verschwunden. Und keiner weiss laut Salathé, warum und wer dahintersteckt.»

ANITA MOSER
Quelle: NZZ vom 17. April


Wie funktioniert eine PEPP-PT-App?

15 Minuten lang Kontakt, näher als zwei Meter. Das sind die beiden Parameter, mit denen Apps auf der PEPP-PT-Plattform arbeiten. Ist die App aktiviert, registriert sie anonym Kontakte, die diese Werte erfüllen und so eine Übertragung des Coronavirus möglich machen würden. Durch die Stärke des Bluetooth-Funksignals wird die Entfernung zwischen den Mobiltelefonen respektive der Personen gemessen. Registriert sich einer dieser Handybesitzer später als mit Corona infiziert – bestätigt von einer Fachstelle –, werden Nachrichten an alle der in den letzten drei Wochen anonym registrierten Handykontakte versendet. Darin wird mitgeteilt, dass man Kontakt mit einer positiv getesteten Person hatte und man beispielsweise mit dem Hausarzt die weiteren Schritte wie Quarantäne besprechen sollte. So soll die Weiterverbreitungskette des Virus unterbrochen und die Ansteckungszahlen vermindert werden.

 


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